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Wernievergibt

Wernievergibt

Titel: Wernievergibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friederike Schmöe
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sich.
    Das Kind hatte ihr ein paar Mal geschrieben. Medea hatte die Briefe nie beantwortet. Sie konnte nicht. Der Schmerz hatte ihr Herz zerfressen. Sie wollte eine Erinnerung bewahren an ein Kind, das schräg über die Straße wohnte. Allzeit konnten sie einander sehen, miteinander essen, sich Neuigkeiten erzählen. Und plötzlich war das Mädchen fort. Weit fort. So weit hinter dem Eisernen Vorhang – Medea hatte sich kaum vorstellen können, dass diese Welt tatsächlich existierte. Heute war niemand mehr imstande nachvollziehen, wie unüberwindlich diese Distanz erschienen war. Ferner als Mond und Mars. Ferner als das Ende des eigenen Lebens.
    Im Ort hatte man sie gehasst. Wie einfältig die Menschen waren! Die Musikfreunde redeten sich in Rage, trugen immer wieder dieselben Zusammenhänge vor, von einer intriganten, bösartigen, gehässigen und egomanischen Medea. So lange wirbelten die Schilderungen von Mund zu Mund, bis die Leute die Wirklichkeit neu zurechtgezimmert hatten. Musik! Medea konnte allein das Wort nicht ertragen, und sie schloss sich nicht an, um Claras Stimme im Radio zu hören, oder die ersten Plattenaufnahmen, die auf geheimnisvollen Wegen ins Land huschten. Die reizende, berauschende, geschliffene Stimme eines Teenagers mit einer außergewöhnlichen Begabung.
    Ihre zweite Tochter, Claras Tante, nahm ihr das übel. Die Familie drangsalierte sie. Bald machte die ganze Stadt mit. Zusätzlich suchte die Angst um das Kind Medea heim. Manchmal, in den Nächten, spürte sie etwas, von dem sie meinte, es sei die Verbindung zu Clara. Als litte Clara und riefe nach ihr. Die Pein wurde unerträglich, weil der Zweifel in Medeas Herz Nahrung fand. Vielleicht habe ich falsch gehandelt, indem ich versuchte, ihre Ausreise zu verhindern. Oder indem ich es nicht mehr versuchte. Vielleicht bilde ich mir alles nur ein. Der innere Zwiespalt marterte sie.
    Sie hatte keine andere Möglichkeit gesehen, als zu gehen. Das alte Leben abzuschließen und neu geboren zu werden. Gestorben war sie, sobald der Wagen mit Clara und ihrer Mutter auf der staubigen Straße außer Sicht geriet. Zu verschwinden bedeutete nichts mehr.
    Mit einem Bündel auf dem Rücken brach sie in tiefer Nacht nach Gomi auf. Sie wollte in die Berge. Von dort kam sie unzählige Jahre später über viele verzweigte Wege nach Kasbegi. Hier war sie eine einsame Alte, die keine Vergangenheit besaß. Eine, die man in Ruhe ließ, weil sie sich nützlich machte mit ihrem Wissen um die Konstellationen des Lebens. Eine, die nichts wollte, von keiner Behörde, von keinem Amt; die man nicht ausfragte, weil sie von einer Aura des Schmerzes und des Geheimnisses umgeben war.
    »Ich gehe dann mal«, sagte Keti. »Mein Niko wartet auf mich.« In ihren Augen las Medea Verwirrung. Sie musste aufstoßen, so heftig kam das Glücksgefühl: Selbst Keti merkt es. Etwas geschieht.
    »Gute Nacht, Keti«, sagte sie sanft und umarmte die Freundin. »Danke für deinen Besuch.«

39
    Vor meinen Augen war die Welt zu einer Schatzkiste geworden. Die Nacht schwebte davon. Das Meer lag nicht schwarz, sondern grau neben den Bahngleisen. Halb verrottete Telefonkabel baumelten an den Masten.
    Ich kroch aus meinem Bett und trat auf den Gang. Es war kurz nach fünf Uhr morgens. Der Zug stand direkt am Strand, vielleicht 20 Meter von den verschlafen platschenden Wellen entfernt. Links zog sich eine Bucht bis zum Horizont. Ich sah ein Schiff und einen Turm, beide schwarz im Dämmerlicht.
    Im Zug war es still. Aus manchen Abteilen hörte ich grollendes Schnarchen. Irgendwo klingelte ein Handy. Ich setzte mich auf einen Klappsitz und starrte hinaus, überwältigt, erstaunt. Einer jener Augenblicke, in dem man innehielt und sich fragte: Wie komme ich genau jetzt, in diesem Moment meines Lebens, an diesen Ort? War das Vorsehung, der große Plan einer unbekannten Macht, oder schlicht ein indifferenter Zufall, der Leben zurechtschnitt, wodurch ein manchmal komisches, manchmal schauriges Flickwerk entstand? Die meisten Menschen versuchten sich mit Prognosen und Erklärungen, wie und warum Dinge passieren würden oder auch nicht, und hielten sich für besonders rational und logisch, während sie andere, die ab und zu ein Horoskop lasen oder sich abgegriffene Nostradamus-Bücher im Antiquariat kauften, belächelten. Bedingungslos zu rationalisieren, zu hinterfragen und seine Skepsis zu zelebrieren, fand ich genauso abergläubisch wie das Tragen eines Talismans. Mir waren statistikdürre Menschen

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