Wernievergibt
ebenso unsympathisch wie solche, die ihr Bauchgefühl zum Gott erhoben. Aber das alles spielte keine Rolle beim Anblick des Meeres.
Der Zug fuhr ruckelnd an und kroch mürrisch weiter, als wolle er sagen, er sei es nicht würdig, über derartig alte Schienen zu rollen.
Eine Stunde später checkten wir in einem Hotel ein, das direkt hinter dem Batumi Boulevard lag, einer schick hergerichteten, am frühen Morgen menschenleer daliegenden Strandpromenade. Juliane und ich teilten ein Zimmer. Es mutete orientalisch an, mit Teppichen an den Wänden und einem verschnörkelten Holzbalkon, der durstig nach neuer Farbe schrie.
»Ich gehe schwimmen«, sagte Juliane und verschwand.
40
Medea löschte die Gaslampe und trat vor die Tür. Die Schneeflocken, die auf ihr Kopftuch fielen, waren schwer und nass. Frostiger Regen, der sich als Schnee tarnte. Medea scheuchte die Ziege zurück ins Haus und schob die Tür zu. Langsam ging sie den Terek entlang bis zu der schmalen Brücke, die über die Schlammfluten führte. In den Bergen schmolz der Schnee. Das Wasser würde bald die Brücke überschwemmen.
Die Scheiben des Wirtshauses an der Ecke waren beschlagen. Das Kondenswasser rieselte an den Fenstern herab. Die Straßenbeleuchtung flackerte. In ihrem Lichtschein konnte Medea die schweren Flocken auf den Asphalt taumeln sehen, wo sie sogleich schmolzen, zu einer schmierigen Pampe, in denen ihre Gummistiefel keinen Halt fanden.
Nicht die feine Art, einen wichtigen Gast zu begrüßen, in Gummistiefeln, dachte Medea.
Aber Clara war kein Gast. Sie war ihr Kind. Ihre Enkelin, wenn sie genau sein wollte. Etwas von ihr lebte in dem Mädchen. Mädchen, nein, Medea rückte an ihrem Kopftuch, ein Mädchen war sie, als sie ging. Nun war sie eine erwachsene Frau. 36. Medea erinnerte sich genau an den Tag ihrer Geburt. Sie kam in dieses Leben, so leise, so plötzlich. 20 Minuten nach der ersten Wehe lag das Baby in den Armen seiner Mutter, es weinte und schrie nicht, sondern schlief friedlich, ohne seine Umwelt weiter zu beachten. Als Clara zwölf war, reiste sie aus. Sie trug das blonde Haar in zwei dünnen Zöpfen. Sie war spät dran, hatte noch keinen Busen, wie die anderen Mädchen ihres Alters, und spielte gern mit einem Jungen, der Epileptiker war und Dodo genannt wurde.
Medea hatte sich nie für die Presseberichte über Clara interessiert. Und natürlich wusste hier niemand irgendetwas über Medeas Herkunft. Einmal hatte Keti eine Zeitschrift aufgetrieben. Mit Clara Clevelands Leben als Titelgeschichte. Medea hatte die Freundin gebeten, ihr die Zeitschrift dazulassen. Einen Abend lang hatte sie darin geblättert. Die bunten Fotos ihrer Enkelin betrachtet und gegen die innere Zerrissenheit gekämpft. Sich ausgemalt, wie es wäre, ein Konzert zu besuchen, in dem Clara sang. Wie stolz sie sein könnte! Aber sie hatte nur Ablehnung und Furcht gefühlt.
Medea ging langsam die Straße hinauf. Ein Jeep raste knapp an ihr vorbei. Das würde zu ihr passen. Dass sie das Glück versäumte, weil ein volltrunkener Idiot sie im Finstern rammte. Medea hatte sich nie vor dem Tod gefürchtet. Vielmehr hatte sie ihn viel zu häufig in diesen letzten Jahrzehnten herbeigesehnt. Fast ein Vierteljahrhundert war sie von Clara getrennt.
Halt, dachte Medea. Ich weiß es nicht sicher. Ich gehe den Weg hinauf, in der Hoffnung, dass die letzte Marschrutka heute … sie verbot es sich, weiterzudenken.
Der Wind fegte schneidend kalt von den Bergen herab. In den Häusern legten die Menschen Holz nach. Der Winter hier oben an der Grenze zu Russland wollte nicht enden. Zu rau, zu kalt, zu hoch. Gerade weit genug weg, um nicht mehr gesehen zu werden, ergänzte Medea.
Sie zog den wollenen Umhang fester um ihre Schultern.
Ein Wagen kam aus Richtung Gudauri, noch einer. Danach schlummerte die Straße. Medea lehnte sich in den Schatten eines Baumes. Im Süden musste schon alles grün sein. Hier trugen die Bäume noch kein Laub. Nicht ein einziges Blatt. Etwas Weiches stupste an ihr Knie. Die Ziege!
»Wo kommst du denn her«, murmelte Medea zerstreut, während ihr Herz bis zum Hals schlug. Vor Schreck. Vor Aufregung. Ihre Hand glitt über das warme Fell der Ziege. Sie wartete. Das Tier stand ganz still. Sogar die Ziege ahnte etwas.
Die Marschrutka hielt nur wenige Meter von Medea entfernt. Drei Frauen stiegen aus. Medea kannte sie alle. Fröstelnd eilten sie davon, nach Hause, zu ihren Männern und Kindern.
Die Enttäuschung brannte wie Galle in ihrem Mund.
Weitere Kostenlose Bücher