Wesen der Nacht
Baumstamm zu verfrachten, andernfalls hätten spätestens jetzt meine schlotternden Knie unter mir nachgegeben. Die Hasenpfote rutschte mir aus der Hand. Mit einem vernehmlichen Laut schluckte ich einen erneuten Anflug von Übelkeit herunter.
»V erflucht, Mädel, hat dir denn niemand was gegen diese Übelkeit gegeben?« Er drückte mir die Pfote wieder in die Hand.
Eine Hasenpfote? Und wie hätte jemand ahnen sollen, dass ich überfallen werden und in Panik geraten würde? Klar, die Übelkeit war auch schon vorher dagewesen, aber das konnte Mr Miller nicht wissen. Verwirrt sah ich ihn an. Eigentlich hatte ich gar nichts sagen wollen, doch sein durchdringender Blick zwang mich geradezu zu einer Antwort. Du meine Güte, so fühlte ich mich sonst nur unter Moms Blick, wenn sie wirklich, wirklich sauer war.
»I ch habe es schon mit Pepto-Bismol und Alka-Seltzer versucht, aber nichts hilft.«
Mr Miller runzelte die Stirn. »A ber du weißt, woher sie kommt?«
»W enn ich das wüsste, hätte ich längst etwas dagegen unternommen.«
Er nickte, als hätte ihm meine Antwort etwas bestätigt, was er längst geahnt hatte. Warum interessierte er sich überhaupt dafür? Ich war um ein Haar entführt worden, und statt den Kerlen hinterherzujagen, die Polizei zu rufen oder wenigstens seinen Kollegen Bescheid zu geben, erkundigte er sich nach meiner Übelkeit.
Das Motorengeräusch eines näher kommenden Wagens ließ mich auffahren.
Mr Miller legte mir eine Hand auf die Schulter. »M ach dir keine Sorgen, die kommen erst mal nicht zurück.«
Erst einmal. Dieser Gedanke sorgte dafür, dass mir gleich wieder speiübel wurde. War das möglich? Würden sie noch einmal versuchen, mich zu erwischen? Unwillkürlich schüttelte ich den Kopf. Das würde bedeuten, dass ich kein Zufallsopfer war, und das konnte und wollte ich beim besten Willen nicht glauben. Meine Eltern waren weder reich noch berühmt. Niemand konnte so dämlich sein, große Summen Lösegeld von uns zu erwarten. Es sei denn … Was, wenn sie unerwartet zu Geld gekommen waren? Vielleicht war eine Tante gestorben, von der ich nichts wusste, oder ein reicher Onkel. Das würde zumindest das Haus erklären. Allerdings erklärte es nicht, warum irgendwelche Entführer davon wussten, während meine Eltern mir nichts davon erzählt hatten.
Der Wagen fuhr an uns vorüber, ohne dass uns jemand Beachtung schenkte. Als er endlich außer Sichtweite war, entspannte ich mich ein wenig.
»H ast du eine Ahnung, wer diese Typen waren?«, riss mich Mr Miller aus meinen sich im Kreis drehenden Gedanken.
Ich schüttelte den Kopf.
»I st dir etwas an ihnen aufgefallen? Etwas Besonderes?«
Abgesehen davon, dass sie mich verschleppen wollten? »E iner hatte eine Tätowierung.« Es war mein Student gewesen, der Typ mit dem Handy, der mich so nett angelächelt hatte. Fantastisch! In Zukunft würde ich wohl jeden Typen, der freundlich lächelte, für einen potenziellen Entführer halten. Das dürfte es schwierig machen, ein vernünftiges Date zu finden– eines, das nicht ständig mit Leichenbittermiene herumlief. Aber was tat ich hier überhaupt? Da saß ich und dachte über irgendwelche Dates nach, die es wahrscheinlich ohnehin niemals geben würde, statt mich darauf zu konzentrieren, so viele Informationen wie möglich über diese Männer weiterzugeben, damit die Polizei sie schnappen konnte.
»W o? Wie sah sie aus?«
»A n der Innenseite des Handgelenks. Ich glaube, es sollte eine Weltkugel sein.«
Er zog eine Augenbraue in die Höhe.
»W ar das ein Gangzeichen?« Unmöglich! Der Kerl hatte viel zu gepflegt ausgesehen, um einer Gang anzugehören. Er hatte teure Markenjeans getragen und sein Smartphone war sicher auch nicht billig gewesen. Dort, wo die meisten Gangmitglieder herkamen, konnte man sich so etwas überhaupt nicht leisten. Es sei denn, er hatte die Sachen jemandem abgezogen. »M r Miller?«, hakte ich nach, als er nicht sofort antwortete. »W aren das Gangmitglieder?«
»S o etwas Ähnliches. Hast du so eine Tätowierung schon einmal gesehen?«
»N ein, noch nie. Dieser Kerl muss uns gefolgt sein, seit wir aus der U-Bahn ausgestiegen sind.« Ich erzählte ihm davon, dass ich mit Pepper unterwegs gewesen, mir in der U-Bahn schlecht geworden war und wir uns entschlossen hatten, den restlichen Weg zu Fuß zu gehen. Berichtete von den Begegnungen mit dem Kerl, davon, dass Pepper gehen musste und wie ich mich immer wieder beobachtet gefühlt hatte. Mr Miller hörte sich
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