Wesen der Nacht
dabei gewesen war. Von den ständigen Kontrollanrufen ganz zu schweigen. Es hatte mich unzählige Gespräche, Wutanfälle und zornige Tränen gekostet, Mom endlich davon zu überzeugen, die Leine ein wenig lockerer zu lassen. Wenn sie auch nur einen Bruchteil von dem erfuhr, was gerade passiert war, würde sie mich zurück in den goldenen Käfig stopfen und den Schlüssel im Klo runterspülen. »Ä hm, könnten wir das vielleicht irgendwie diskret behandeln?«
»D iskret?« Aus seinem Mund klang dieses eine Wort wie ein Knurren.
»M eine Mom. Also, sie soll nicht…« Sie würde mich glatt von der Schule nehmen und mir einen Privatlehrer engagieren, wenn sie damit verhindern konnte, dass ich noch einmal das Haus verlassen musste. »S ie würde durchdrehen. Die sperrt mich glatt weg. Bitte, Sir.«
Mr Millers Blick war fest auf meine Augen gerichtet und ich gab mir alle Mühe, ihm zu signalisieren, wie wichtig sein Schweigen für mich und den Fortbestand meines Soziallebens war.
Endlich nickte er. »A ber nur unter einer Bedingung.«
»U nd die wäre?« Mir war alles recht. Ich würde seine Stiefel polieren, seine Uniform bügeln und ihm jeden Tag eine Kanne Kaffee kochen, wenn mir das sein Schweigen erkaufte. Verflucht, ich würde ihm sogar jeden Tag ein Gurkensandwich bringen.
»D u musst lernen, dich zu schützen.«
Damit hatte ich nicht gerechnet.
Bevor ich etwas erwidern konnte, sagte er: »K omm am Montag nach der Schule in die Turnhalle hinter der alten Bibliothek an der Musswell Road, dann bringe ich dir bei, wie du dich verteidigen kannst.«
Das war mehr, als ich erwartet hatte. Er würde nicht nur Mom gegenüber dichthalten, nein, er bot mir sogar noch ein Kampftraining an.
»J a, Sir. Danke, Sir.«
3
Erst vor meiner Haustür bemerkte ich, dass meine Hand sich immer noch um Mr Millers Hasenpfote klammerte. Ich schob sie in meine Tasche und nahm mir vor, sie ihm am Montag zurückzugeben. Mit einem unguten Gefühl öffnete ich die Tür. Zum einen wusste ich nicht, wie ich Mom gegenübertreten sollte, zum anderen fürchtete ich mich davor, mit meinen Gedanken und den Bildern der letzten Stunde allein in meinem Zimmer zu sein. Nur zu gerne hätte ich über das geredet, was passiert war. Ich brauchte jemanden, der mir versicherte, dass alles in Ordnung und ich in Sicherheit war, doch Mom kam dafür nicht infrage. So oft ich mich ihr sonst auch anvertraute, das war nichts, worüber ich mit ihr sprechen konnte. Nicht, wenn ich nicht all meine über die Jahre mühsam erkämpften Freiheiten mit einem Schlag wieder verlieren wollte. Ich würde Pepper anrufen, sobald sie nach Hause kam.
Auf der Schwelle blieb ich stehen und lauschte. Vielleicht gewährte mir das Schicksal einen kleinen Aufschub und Mom war noch in der Redaktion. Ein paar Stunden Zeit, um mich zu beruhigen, würden es mir sicher leichter machen, zu tun, als sei nichts gewesen.
Meine Hoffnung erstarb mit dem Klappern der Tastatur, das aus der Küche zu hören war. Der Esstisch war Moms bevorzugter Platz, wenn sie zu Hause arbeitete. Vermutlich, weil sie hier dem grenzenlosen Teenachschub am nächsten war. Mom war süchtig nach Tee und Arbeit. Sie schrieb für ein kleines Londoner Blatt. Meistens drehten sich ihre Artikel um Jugendliche, bevorzugt um kriminelle Jugendliche, die die Straßen unsicher machten und immer wieder als Beispiel dafür herhalten mussten, wie gefährlich es war, allein unterwegs zu sein.
Behutsam schloss ich die Haustür hinter mir. Wenn ich leise genug war, konnte ich mich vielleicht in mein Zimmer schleichen, ohne dass Mom mich bemerkte.
»S erena, bist du das?«
Mit einem resignierten Seufzer ließ ich meine Tasche fallen und warf den Hausschlüssel auf den Schuhschrank, wo er scheppernd zum Liegen kam. »N ein, Mom«, rief ich und war erstaunt, wie fest meine Stimme klang. »I ch bin der Alien, der deine Tochter entführt und ihren Platz eingenommen hat.«
Der Witz wäre mir um ein Haar im Hals stecken geblieben, als mir bewusst wurde, wie nah ich dem Entführt-Teil gekommen war. Ich schlüpfte aus meinen Schuhen, straffte die Schultern und ging in die Küche. »H i, Mom.«
»H allo Liebes.« Als ich hereinkam, sah sie kurz von ihrem Laptop auf, beugte sich aber gleich wieder über die Tastatur, um den angefangenen Satz zu beenden. Erst, als sie beim Punkt angekommen war, wandte sie sich mir wieder zu. Ihr Blick wanderte an mir vorbei. »W o ist Pepper?«
»D ie musste im Laden einspringen.«
Nach der
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