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Wesen der Nacht

Wesen der Nacht

Titel: Wesen der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Melzer
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sommerlichen Hitze draußen war es im Haus schattig und kühl. Hätte mir nicht die Angst noch immer in den Knochen gesteckt, hätte ich es vermutlich als angenehm empfunden. So jedoch konnte ich nicht verhindern, dass es mich fröstelte. Um meine Nervosität zu unterdrücken und meinen zittrigen Händen etwas zu tun zu geben, schnappte ich mir den Wasserkocher, füllte ihn und schaltete ihn ein. Obwohl ich Moms Teeliebe nicht geerbt hatte, nahm ich mir eine Tasse aus dem Schrank und warf den nächstbesten Beutel rein, ohne das Etikett auch nur anzusehen.
    Als ich mich stark genug fühlte, um mich Mom wieder zuzuwenden, warf sie einen demonstrativen Blick auf die Digitaluhr am Herd. »D u bist spät dran.«
    »I ch bin vom Archway aus zu Fuß gegangen.« Weil ich sonst die U-Bahn vollgekotzt hätte. Glücklicherweise hatte ich im Laufe der Jahre gelernt, mir vor Mom nicht anmerken zu lassen, was in mir vorging. Als ich noch klein war, hatte sie immer sofort gespürt, wenn ich mit etwas hinter dem Berg hielt.
    »I ch habe dich angerufen. Warum bist du nicht ans Telefon gegangen?«
    Ich verdrehte die Augen. Als ich vor ein paar Jahren mein erstes Handy bekam, hatte Mom beinahe stündlich angerufen. Nachdem mein Telefon an einem Vormittag zum zweiten Mal während des Unterrichts klingelte, hatte Mr Holiday es mir abgenommen und es mir erst am Ende der Woche zurückgegeben. Danach hatte ich mir angewöhnt, es auf lautlos zu schalten. »I ch habe vergessen, den Klingelton nach der Schule wieder anzustellen.«
    »S erena, so geht das nicht. Ich erwarte von dir, dass du dein Handy zuverlässig wieder einschaltest.« Ihre Augen hefteten sich auf meine Bluse. »W ie siehst du überhaupt aus? Du bist ja ganz schmutzig.«
    »I ch bin über einen offenen Schnürsenkel gestolpert und gefallen«, sagte ich lahm.
    Das Wasser kochte. Froh, mich nicht länger Moms missbilligendem Blick aussetzen zu müssen, goss ich meinen Tee auf. Es war nicht ihre Schuld, dass sie sich so benahm. Ihr Verfolgungswahn hatte mit ihrer Vergangenheit zu tun und Mom litt heute noch darunter. Dumm nur, dass ich jetzt mit den Folgen einer Sache leben musste, die Jahre vor meiner Geburt passiert war. Damals war Tante Beth, Moms Schwester, entführt worden.
    Der Zuckerlöffel entglitt mir und fiel scheppernd auf die Arbeitsplatte. Entführt. Dasselbe wäre mir um ein Haar auch passiert. Mit zitternden Fingern nahm ich den Löffel wieder auf und rammte ihn so fest in die Zuckerdose, dass ich schon fürchtete, durch den Boden zu stoßen. Zuckerkristalle stoben über den Rand des Gefäßes und rieselten auf die Arbeitsfläche. Nur zu deutlich war ich mir Moms Aufmerksamkeit bewusst, glaubte ihren Blick zu spüren, wie ich auch den Blick meines Verfolgers gespürt hatte. Reiß dich zusammen, Serena! Wenn ich jetzt zuließ, dass meine Gefühle die Oberhand gewannen, würde Mom sofort merken, dass etwas nicht stimmte. Meine Finger krampften sich um den Löffel. Ich schaufelte Zucker in meine Tasse, viel mehr, als ich normalerweise nahm, kippte einen Schuss Milch hinterher und rührte um. Der Löffel klirrte, Tee schwappte über den Tassenrand und hinterließ einen nassen Ring darunter. Ich holte einen Lappen und wischte mein Missgeschick auf. Bis ich den Lappen ausgewrungen und aufgehängt hatte, hatte ich mich wieder einigermaßen unter Kontrolle. Zumindest war mein Verstand wieder klar genug, um zu begreifen, dass meine Beinahe-Entführung nichts mit Tante Beth’ Verschwinden von vor zwanzig Jahren zu tun haben konnte. Das waren junge Männer gewesen, die versucht hatten, mich in ihre Gewalt zu bringen. Wären es dieselben gewesen, die auch meine Tante verschleppt hatten, hätten sie wohl eher wie Mr Miller ausgesehen– mit grauem Haar und Falten im Gesicht.
    Dass die Polizei damals nach monatelanger Fahndung die Ermittlungen eingestellt und weder Tante Beth noch ihre Entführer jemals gefunden worden waren, änderte nichts daran, dass die Ähnlichkeit des Verbrechens nur ein dummer Zufall sein konnte. Ich umfasste meine Tasse mit beiden Händen und drehte mich wieder zu Mom herum.
    »I ch will nicht, dass dir etwas passiert.« Früher hatte Mom mit diesem Argument jede Diskussion über meine Freiheit im Keim erstickt. Inzwischen ließ ich mich davon nicht mehr ins Bockshorn jagen. Heute jedoch brachten mich ihre aufrichtig besorgten Worte um ein Haar dazu, mich in ihre Arme zu werfen und ihr alles zu erzählen.
    »I ch muss noch Hausaufgaben machen.« Bevor

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