Wesen der Nacht
doch klar, dass das deinen Tod bedeuten würde!«
»H ast du den Hüter gesehen? Hast du gesehen, was mit ihm passiert ist? Dasselbe wäre mir passiert. Das hätte meinen Tod bedeutet. So hatte ich zumindest eine Chance.«
»A ber das ist nur ein Splitter. Er ist so winzig. Wie kannst du damit überleben?«
Er drückte meine Hand. »E r wird wachsen«, sagte er. »D afür muss er sich täglich aufladen, aber sobald er seine volle Größe erreicht hat, werde ich ein normales Leben führen können.«
»U nd bis es so weit ist, musst du in der Nähe des Tors bleiben?«
Er nickte. »Z umindest, bis sie mich ans Jenseits ausliefern. Dort muss ich mir keine Sorgen darüber machen, wie er aufgeladen wird. Es passiert einfach.«
Dafür musst du dir um dein Leben Sorgen machen.
Cale hatte meinen Gedanken aufgefangen. Seine Klauen schlossen sich fester um meine Hand. »G anz egal, was passiert, ich werde es überstehen– solange ich nur weiß, dass es dir gut geht.«
Ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen traten. Schon wieder. In den letzten beiden Tagen war ich zu einem regelrechten Springbrunnen mutiert. Cale hob die Hand und wischte mir die Tränen ab, als sie auf meine Wange tropften. Er setzte sich ein Stück auf, sank aber atemlos gleich wieder in die Kissen. Selbst diese kurze Anstrengung hatte ihn beinahe mehr Kraft gekostet, als er hatte. Mein Blick streifte über seinen Oberkörper, wo sich unter den Hornplatten deutliche Muskeln abzeichneten. Die weißen Verbände an seiner Schulter und seiner Seite, dort wo ihn der Dolch getroffen hatte, hoben sich grell von seiner sandfarbenen Haut ab.
Mein Blick richtete sich auf die Mitte seiner Brust. Die Wunde hatte sich geschlossen, das Blut hatte ich abgewaschen und der kleine Steinsplitter schien bereits fest mit seinem Fleisch verwachsen zu sein. Nachdem ich wusste, wie es ausgesehen hatte, als er noch seinen eigenen Herzstein in sich getragen hatte, war der Anblick erschreckend. Die Kuhle war so groß, dass der Splitter beinahe darin verschwand. Cale nahm meine Hand und führte sie zu seiner Brust. Zögernd berührte ich den Stein. Warm und leuchtend lag er unter meinen Fingern. Vorsichtig strich ich darüber. »T ut das weh?«
Er schüttelte den Kopf. Ich war so unendlich froh, dass es ihm besser ging und dass ich hier bei ihm sitzen konnte.
Offenbar war mir anzusehen, dass ich nicht bequem saß schräg neben ihm auf der Matratze, bemüht, ihm einerseits nicht zu sehr auf die Pelle zu rücken und ihm gleichzeitig so nah wie möglich zu sein. »K omm, leg dich zu mir«, sagte er, als sei das die selbstverständlichste Sache auf der Welt.
Ich wollte protestieren, wollte ihm sagen, dass ich ihm nur wehtun würde, wenn ich versehentlich seine Verletzungen berührte, doch sein Blick war so entschlossen, dass ich widerspruchslos zu ihm unter die Decke schlüpfte und mich in seinen ausgestreckten Arm schmiegte. Wenn Mom jetzt hereinkam, würde sie ihm persönlich den Herzstein herausreißen. Den Stimmen nach zu urteilen, die gedämpft von unten an mein Ohr drangen, bezweifelte ich allerdings, dass sie in nächster Zeit hier auftauchen würde. Armer Dad.
»I ch bin wirklich froh, dass du meinen Plan rechtzeitig durchschaut und den Stein an seinen Platz gesetzt hast.«
Ich hob den Kopf und sah ihn an. Es war noch immer ungewohnt, in dieses Gesicht zu blicken, doch seine Augen– dieses glühende Blau– waren unglaublich faszinierend. »D as war ein Plan? Wann hattest du vor, mich einzuweihen?«
»I ch hatte eigentlich gehofft, dass ich noch in der Lage sein würde, mir den Splitter selbst einzusetzen. Wenn ich ihn bei mir gehabt hätte und nicht der Kobold, dann hätte es vielleicht sogar geklappt.« Er verzog das Gesicht, was bei einem Dämon einigermaßen schaurig aussah. »S ieht so aus, als hätte ich den Zeitrahmen falsch eingeschätzt.«
»W ie bist du überhaupt an den Splitter gekommen?«
»D rizzle hat ihn angeschleppt, nachdem ich ihn endlich davon überzeugen konnte, dass ich dir zum einen helfen will und mir zum anderen nicht mehr viel Zeit dafür bleibt, weil sonst mein Herzstein explodiert– oder was auch immer damit passiert ist.«
Ich hätte mir denken können, dass der Kobold dahintersteckte. Immerhin war er es auch gewesen, der Cale den Splitter in die Hand gedrückt und mich darauf aufmerksam gemacht hatte. »I ch wusste nicht, dass er sich weigern würde, dich freizulassen. Ich dachte irgendwie, ihr Jenseitswesen haltet sowieso
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