0793 - Als der Engel Trauer trug
Der Bau war klein, ziemlich flach und hatte nichts Modernes an sich.
Es gab keine großen Fenster, dafür viel Backstein, kleine Fenster, und die waren zusätzlich noch von außen vergittert. Warum dies so war, wusste wohl niemand mehr, denn wer stieg schon in eine Leichenhalle ein?
Das hatte auch die einsame Gestalt nicht vor. Sie würde auf eine andere Art und Weise in die Leichenhalle gelangen, und zwar durch eine Tür und mit Hilfe eines Schlüssels.
Die Zweige kratzten an ihrem ebenfalls grauen Mantel, als sie sich um einen Busch wand und vor sich die Treppe mit den drei breiten Stufen sah, die zur Tür führte.
Der Eindringling ging auf Nummer sicher. Bevor er die Treppe hinter sich ließ, schaute er sich um. Es war niemand zu sehen. Keiner war ihm gefolgt, und über die breiten Lippen huschte ein knappes Lächeln. Alles lief nach Plan, und er war sich auch sicher, die ›Beute‹ in der Leichenhalle zu finden.
Vor der Tür bückte sich die Gestalt. Den Schlüssel hielt sie bereits in der Hand. Das Schloss war normal. Wenn der Schlüssel zweimal gedreht worden war, würde es offen sein.
Auch jetzt war kaum ein Laut zu hören. Auch dann nicht, als die Tür geöffnet wurde und der typische Trauergeruch einer Leichenhalle an die Nase des Einbrechers wehte. Es roch nach irgendwelchen Desinfektionsmitteln, nach Pflanzen, auch nach Bohnerwachs sowie nach kalter Haut und Tränen, wie die Gestalt glaubte.
Vor ihr lag ein Flur.
Zu sehen war kaum etwas, nur hin und wieder das matte Spiegeln des blank gescheuerten Bodens, über den sich der Eindringling weiterbewegte und es nicht mal für nötig hielt, die kleine Taschenlampe hervorzuholen. Es war alles sehr gut durchgeplant worden, das Ziel war nahe.
Und das lag hinter einer braunen Tür, etwas abseits der eigentlichen Trauerhalle. Es war ein kleiner Raum, wo die Toten aufbewahrt wurden. Die Tür war nicht verschlossen, der Knauf brauchte nur gedreht zu werden. Ein leises Schnacken erklang, dann war der Weg frei.
Auch hier konnte der Einbrecher die Tür lautlos aufstoßen. Und nun griff er zur Taschenlampe. Da dieser Raum kein einziges Fenster aufwies, sickerte nicht mal graues Nachtlicht gegen den Gegenstand, der in der Mitte auf einem für ihn zu großen Sockel stand.
Es war ein Sarg!
Kein normaler großer, sondern ein kleiner und schneeweißer Kindersarg. Der Eindringling ging noch einen Schritt vor und blieb – das wusste er – an der unteren Seite des Sargs stehen. Er ließ den Lichtstrahl über ihn hinwegwandern. In seinem Gesicht zogen sich die Brauen zusammen, weil er sich darüber ärgerte, dass die Farbe nicht an allen Stellen gleichmäßig verteilt worden war. In der oberen Hälfte schimmerte sie dichter als am Fußende.
Der Sarg war verschlossen, aber vom Deckel her nicht zugeklemmt. Am nächsten Morgen würde die Beerdigung sein, und es gab Menschen, die das tote Mädchen noch einmal sehen wollten.
Die Gestalt lächelte, als sie sich bückte. Mit einer Hand schaffte sie es, den Deckel zur Seite zu schieben. Was bei vielen Menschen einen Schauer oder Angstgefühle sowie starke Beklemmungen ausgelöst hätte, nötigte dem Dieb nur ein triumphierendes Lächeln ab.
Der Deckel wurde zur Seite gelegt. Dann wanderte der Lichtstrahl wieder zurück – und er traf die Gestalt.
Das Mädchen sah aus wie eine Schlafende. Blonde Locken umrahmten ein rundes Puppengesicht. Das tote Kind trug ein weißes Kleid, es sah darin aus wie eine junge Braut, die allerdings dem Tod geweiht worden war. Wie es gestorben war, interessierte die Person nicht, auch der Name spielte bei ihrem Vorhaben keine Rolle. Sie wollte einzig und allein das Kind in ihren Besitz bringen.
Sie brauchte die Lampe nicht mehr. Als der Strahl verschwand, kehrte auch wieder die Finsternis zurück, die alles umhüllte. Die Gestalt bückte sich. Diesmal musste sie beide Hände zu Hilfe nehmen, und sie fand zielsicher den Sarg und damit auch den kleinen, kalten Körper des Kindes.
Sie hob ihn an.
Mit der Linken hielt sie das Kind fest und presste es gegen ihre Brust. Mit der Rechten streichelte sie über das blonde Haar, als wollte sie es noch im Tode trösten.
Plötzlich hatte die Gestalt viel Zeit. Aus ihrem geschlossenen Mund drang ein Summen, das Wiegenlied für eine Tote. Etwa zwei Minuten ging sie mit dem Kind durch die stockdunkle Leichenhalle und schlug dann den Weg zur Tür ein.
Auch jetzt brauchte sie kein Licht. Die tastende Rechte erfühlte das Holz, sehr bald schon berührte
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