1510 - Der Hexenbrunnen
Erin Kendall stand auf. Sie trug einen Morgenrock über dem Schlafanzug. Eigentlich hatte sie vorgehabt, ins Bett zu gehen, hatte sich dann aber anders entschieden und sich in den Sessel gesetzt, um auf ihren Mann Bruce zu warten, der unterwegs war.
In der letzten Zeit war er sehr oft unterwegs gewesen, und darüber musste sie mit ihm sprechen. Er sollte endlich offen zu ihr sein und nicht weiter schweigen.
Es war nicht weit bis in den Flur und von dort aus bis zur Haustür, in der sich in Kopfhöhe ein kleines Fenster mit einer Gardine befand. Sie schob sie zur Seite und schaute hinaus in den Vorgarten, der zur Straße hin durch einen Zaun abgegrenzt wurde. Es war durchaus möglich, dass das Geräusch von dorther gekommen war.
Ein Stück weiter brannte eine Straßenlaterne. Ihr Licht reichte aus, um etwas erkennen zu können, und Erin Kendall merkte, wie sich ihr Herzschlag veränderte. Praktisch von einer Sekunde zur anderen begann er zu rasen, und der Grund lag an dem, was sie jenseits des Vorgartens sah.
Da stand ein Wagen. Die Marke war für sie nicht zu erkennen, aber es war eine dunkel lackierte Limousine, vielleicht ein ausländisches Modell.
Und noch etwas sah sie.
Der Deckel des Kofferraums stand offen. Dicht davor sah sie zwei Gestalten, die damit beschäftigt waren, sich in den Kofferraum zu beugen. Es konnte nur bedeuten, dass sie aus ihm etwas hervorholen wollten.
Erin Kendall konnte nicht erkennen, ob es sich dabei um Männer oder Frauen handelte. Sie tauchten noch tiefer in den Kofferraum hinein, verharrten so einen Moment und richteten sich danach wieder auf.
Die Frau hinter der kleinen Fensterscheibe atmete scharf durch die Nase ein. Sie schaute auch weiterhin zu und erkannte sehr bald den Grund für die Bewegungen.
Die beiden holten etwas aus dem Kofferraum hervor.
Es war ein größerer Gegenstand, das stand für die heimliche Beobachterin fest. Nur war es zu dunkel, um zu sehen, was da hervorgeholt wurde und in aller Heimlichkeit passierte.
Die beiden Gestalten hatten es geschafft. Sie hielten den länglichen Gegenstand an zwei verschiedenen Enden fest, drehten sich um und betraten den schmalen Bürgersteig direkt am Zaun.
Für die Zuschauerin wurde es noch aufregender. Sie hatte das Gefühl, in einen Film geraten zu sein. Und plötzlich wurde ihr auch klar, dass es kein Zufall war, dass der Wagen genau vor ihrem Haus gehalten hatte.
Die beiden Gestalten hielten ihre Last noch fest. Sekunden später traten sie dicht an den Gartenzaun heran, und dann geschah etwas, das bei Erin Kendall beinahe für einen Atemstillstand sorgte.
Der Gegenstand aus dem Kofferraum wurde über den kleinen Zaun gehievt und in den Garten geworfen. Das sah für die Beobachterin alles so selbstverständlich aus.
Sie hatte plötzlich einen schlimmen Verdacht. Ihre rasenden Gedanken drehten sich plötzlich um Bruce, ihren Mann. Er war weggegangen, wieder einmal, und jetzt hielt an ihrem Grundstück ein Wagen, aus dessen Kofferraum etwas hervorgeholt und auf ihrem Grundstück abgelegt worden war.
Das war nicht normal!
Die beiden Gestalten zogen sich wieder zurück. Schnell stiegen sie in den Wagen, die Türen schlugen zu, und wenig später huschte das Fahrzeug davon. Es war wie ein Spuk gekommen und wie ein Spuk verschwunden.
Erin Kendall blieb an der Haustür stehen und nagte auf ihrer Unterlippe.
Die Gänsehaut auf ihrem Körper wollte nicht weichen. Ihr Mund zuckte, sie musste hart schlucken und flüsterte Worte, die sie selbst nicht verstand. Hier war etwas Unheimliches vor sich gegangen.
Ihr Herz klopfte noch immer sehr schnell. Sie wusste auch, was sie tun musste, nur traute sie sich nicht, es in Angriff zu nehmen. Sie starrte nach wie vor durch die kleine Scheibe in der Haustür, die durch ihren Atem an einer Stelle beschlagen war.
Offenbar hatte niemand etwas bemerkt. Sie war die einzige Zeugin, aber sie konnte nichts mehr unternehmen. Es war alles geschehen, und da dieser längliche Gegenstand in ihrem Vorgarten lag, war er auch für sie bestimmt.
Angst und Neugierde mischten sich bei ihr. Schließlich schaffte sie es, ihre Angst zurückzudrängen. Die Neugierde war stärker, auch wenn sie das Gefühl hatte, dass sie etwas Schreckliches entdecken würde. Erin versuchte, nicht darüber nachzudenken. Sie hatte den Anfang gemacht, und sie würde alles bis zum bitteren Ende durchziehen, das stand fest.
Nach dem Öffnen der Haustür wehte ihr kühle Luft entgegen. Der Stoff des Morgenrocks war nicht
Weitere Kostenlose Bücher