Wie die Iren die Zivilisation retteten
ihr Freund nicht an Kopfkissen erinnert würde. Stereotype und Vorurteile dieser Art, die genauso widerwärtig sind wie alles, was man den Juden nachgesagt hat, haben sich in amerikanischen Universitäten bis zu einem unangenehm jungen Datum gehalten.«
Dieses Datum könnte vorgestern gewesen sein. Doch soll hier kein
Historiker der willentlichen Verfälschung beschuldigt werden. Nein, das Problem ist subtiler als eine Täuschung – und wurde von John
Henry Newman in seiner Fabel vom Mann und dem Löwen kunstvoll
beschrieben.
Einmal lud der Mann den Löwen ein, sein Gast zu sein, und emp-
fing ihn mit prinzlicher Gastfreundschaft. Der Löwe ging durch
einen herrlichen Palast, in dem es eine Menge Dinge zu bewun-
dern gab. Es gab riesige Salons und lange Flure, reich möbliert
und verziert und angefüllt mit herrlichen Skulpturen und Bildern
von den besten Meistem jeder Kunst. Die Themen waren ver-
schieden; doch die schönsten Darstellungen zeugten von einem
besonderen Interesse an dem edlen Tier, welches an ihnen vorbei-
schritt. Es war das Interesse für den Löwen selbst; und während
der Besitzer des Hauses ihn von einem Raum in den nächsten
führte, vergaß er nicht, seine Aufmerksamkeit auf die indirekte
Würdigung zu lenken, die diese verschiedenen Ensembles und
Bilder dem bedeutenden Stamm der Löwen zuteil werden ließen.
Es gab jedoch ein besonderes Merkmal, für das der Gast, so still er aus Höflichkeit auch war, nicht unempfindlich schien; daß nämlich diese Darstellungen, so unterschiedlich sie waren, in einem
Punkt alle übereinstimmten: Der Mann war immer siegreich, der
Löwe immer überwältigt.
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Es ist nicht so, daß der Löwe aus der Kunstgeschichte ausgeschlossen wurde, man hat ihn einfach schlecht dargestellt – und er gewinnt. Als der Löwe seine Hausbesichtigung abgeschlossen hatte, so Newman
weiter, »fragte ihn sein Gastgeber, was er von den Herrlichkeiten im Haus halte; und in seiner Antwort würdigte er die Reichtümer des
Besitzers und die Kunstfertigkeit der Maler, doch er fügte hinzu: „Die Löwen wären besser weggekommen, wären Löwen die Künstler
gewesen.“
Im Verlauf dieses Buches werden wir viele Gastgeber treffen – ver-mögende Persönlichkeiten, die ihre Geschichte zu erzählen haben.
Manche von ihnen glauben vielleicht, daß es außer ihrer Geschichte nichts zu erzählen gibt. Wir werden dankbar sein und ihnen ohne
Einschränkung zuhören. Wir werden sogar versuchen, die Dinge aus
ihrem Blickwinkel zu betrachten. Doch immer wieder einmal werden
wir feststellen, daß wir dabei sind, Löwen zu beeindrucken. Wann, wird jeder Leser für sich selbst herausfinden.
Wir werden jedoch nicht im Land des Löwen beginnen, sondern in
der geordneten, überschaubaren Welt Roms. Denn um die irische
Leistung gebührend würdigen zu können, müssen wir zunächst im
zivilisierten Reich der späten Antike eine Bestandsaufnahme machen.
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1. Das Ende der Welt
Wie Rom unterging – und warum
Am letzten kalten Dezembertag des scheidenden Jahres 406 nach
unserer Zählung fror der Rhein zu und bildete so eine natürliche
Brücke, auf die Hunderttausende von hungrigen Männern, Frauen
und Kindern gewartet hatten. Es waren die barbari – für die Römer eine ununterscheidbare, verfilzte Masse von anderen, keineswegs
furchterregend, sondern einfach störend und lästig, etwas, womit
man sich lieber nicht befaßt hätte – Nichtrömer eben. In ihren Augen waren sie vermutlich einiges mehr, doch da die Ungebildeten kaum
Zeugnisse hinterlassen, können wir über die Meinung, die sie von sich selbst hatten, nur Mutmaßungen anstellen.
Es haben wohl weder die müden, disziplinierten römischen Solda-
ten, die sich am westlichen Ufer aufgereiht hatten, noch die ängstlichen, chaotischen Stämme, die sich am östlichen Ufer versammelten, viel über ihren Platz in der Geschichte nachgedacht. Doch dieser Moment der Flaute, diese relative Ruhe vor dem Sturm, der folgen
sollte, räumt uns die Möglichkeit ein, die Akteure zu beiden Seiten des Flusses zu betrachten und einen Blick auf das zu werfen, was
geschehen war und was geschehen würde.
Wir sehen den Rhein wie einen römischen Adler himmelwärts stei-
gen; den Rhein, den breitesten Strom Europas, der aus dem Untersee von Konstanz im Norden der Alpen entspringt, sich biegt und nach
Norden windet, dann nach Nordwesten, bis er nach einer Reise von
1300 Kilometern die europäische Küste
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