Tödlicher Schnappschuss
EINS
Burg Polle, 23.55 Uhr
Die breiten Reifen des roten
Porsche 911 wirbelten winzige Steine auf, als er das teure Fahrzeug am Fuß
der Burgruine zum Stehen brachte. Mit einem satten Blubbern erstarb der
hubraumstarke Motor im Heck des Sportwagens. Es war eine laue Nacht, und
er ließ das Verdeck geöffnet. Mit einer eleganten Bewegung schälte
sich Christian Vorberg aus dem Cockpit und blickte sich um. Der Porsche
war das einzige Auto auf dem kleinen Parkplatz. Also war er pünktlich.
Sein Geschäftspartner ließ sich Zeit.
Vorberg betätigte die
Fernbedienung des Porsche; die Warnlichtanlage flackerte einmal durch die
Dunkelheit und signalisierte ihm, dass der Wagen abgeschlossen war. Mit lässigen
Bewegungen erklomm Vorberg die ausgetretenen Steinstufen, die zur Ruine
der Burg Polle hinaufführten. Oben angekommen, verharrte der smarte
Enddreißiger und lauschte in die Stille der Nacht. Der Wind frischte
auf und verfing sich in den Ecken des Mauerwerkes, um dort ein
unheimliches Heulen zu erzeugen. Das Laub des Efeus, das an Teilen der
Steinquader emporrankte, raschelte unheilvoll. Die düstere Atmosphäre
dieses Ortes begeisterte ihn seit seiner Jugend. Jetzt, im silbrigen Licht
des Mondes, strahlte das Gemäuer eine ganz besondere Faszination auf
ihn aus. Es war, als könnte er das, was hier in den letzten
Jahrhunderten geschehen war, körperlich spüren. Schicksale,
Grausamkeiten, aber auch Feste und Feierlichkeiten, die hier
im Mittelalter stattgefunden hatten. So hielt er einen Augenblick lang
inne und ließ die Atmosphäre auf sich wirken. Sein Atem ging
rasselnd. In den letzten Wochen hatte er ein paar Kilo zugelegt, was
sicherlich am ständigen Fast Food lag, das er sich zu Gemüte führte.
Vielleicht sollte er wieder ein wenig mehr Sport treiben, mal wieder mit
dem Mountainbike durch die ausgedehnten Wälder des Weserberglandes
fahren, so, wie er es früher immer gern getan hatte. Seine
Leidenschaft war einfach zu kurz gekommen, stellte er bedauernd fest. Doch
man musste Prioritäten setzen.
Christian Vorberg besann sich
auf den Grund seines nächtlichen Besuches auf Burg Polle.
Weiter, rief alles in ihm. Er
atmete tief ein, registrierte einen muffigen Geruch. Als im Gebüsch
hinter ihm der schaurige Ruf eines Käuzchens durch die Nacht hallte,
war die Gruselatmosphäre perfekt. Er war in der Gegend aufgewachsen,
und so war er nicht zum ersten Mal auf Burg Polle, allerdings war dies
sein erster Besuch nach Einbruch der Dunkelheit.
Man hatte ihn angerufen und
um ein Treffen gebeten. Vorberg war gespannt, was ihn hier erwarten würde.
Als er seinen Weg über die ausgetretenen Steinstufen fortsetzte,
knirschten winzige Gesteinsbrocken unter den Sohlen seiner Schuhe. Er
passierte den hohen Torbogen und fand sich innerhalb der Burgruine wieder.
Doch Zeit, sich umzublicken, fand er nicht, denn im gleichen Augenblick
schob sich eine Wolke vor den Mond. Es schien, als hätte jemand das
Licht ausgeknipst. Er unterdrückte einen enttäuschten Seufzer.
Missmutig trat er an die alte Mauer und blickte hinunter ins Tal, wo sich
die Weser wie ein schwarzer Lindwurm gen Norden schlängelte. Den Anleger der Fähre konnte man
kaum ausmachen. In seinem Rücken wuchs der mächtige Bergfried in
den Himmel. Tagsüber kamen Touristen her, um den wunderschönen
Ausblick auf Polle und auf das Tal der Weser zu genießen, sie
machten Erinnerungsfotos und genossen das Panorama, das sich hier bot.
Doch jetzt konnte er mehr von der idyllischen Landschaft erahnen, als er
sie sehen konnte.
»Du bist spät
dran.«
Erschrocken wirbelte er auf
dem Absatz herum, war er doch davon ausgegangen, noch allein zu sein. Die
Person, die ihn hierher zitiert hatte, war also doch schon hier. Vorberg fühlte
sich, als habe man ihm aufgelauert. Die Dunkelheit verschlang die
geheimnisvolle Person vollends, und Vorberg war es, als spreche er mit
einer schwarzen Mauer aus meterdicken Quadern.
»Du wolltest mich
sprechen?« Er wollte mit der Bemerkung Zeit gewinnen und von seiner
Unsicherheit ablenken. Mit angestrengtem Blick starrte er auf die Stelle,
wo er sein Gegenüber vermutete.
»Allerdings. Ich
glaube, du kannst dir denken, worum es geht.«
Die Stimme kam ihm bekannt
vor. Er hasste diese Art von Treffen und spürte Wut in sich
aufsteigen. Wut über sich selbst, der Aufforderung des Anrufers
nachgekommen zu
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