Wie Die Iren Die Zivilisation Retteten
von Geschichten schon immer gegeben. Doch nun gab es erstmals den Schimmer einer Möglichkeit
für psychologische Fiktion: eine subjektive Geschichte, die Geschichte einer menschlichen Seele. Auch wenn der Schrei des Augustinus – des Mannes, der »Ich« schrie – bis zum Beginn der Moderne kaum in
voller Lautstärke zu hören war, ist er der Vater nicht nur der Autobiographie, sondern auch des modernen Romans. Zugleich ist er ein würdiger Vorfahre der modernen Psychologie.
Was machte Augustinus zu Augustinus? Was wurde in welchen
Boden gesät?
Augustinus war einer der letzten Männer mit klassischer Bildung. Er wurde 354 in eine allseits für stabil gehaltene Welt hineingeboren und war im Alter – um 420 – Zeuge der letzten Tage des grammaticus.
Sein Latein zeichnet sich durch eine Feinheit und eine Würze aus, die innerhalb der gesamten Antike ihresgleichen suchen. Die feinen
Schattierungen, die in der oben zitierten berühmten Passage aus den Bekenntnissen mit drei Worten dargestellt werden – Liebe, Bedürfnisse, Haß –, kennzeichnen ihn als klassischen Theoretiker höchsten
Niveaus. Was Ausonius wie eine Medaille trug, ist Augustinus ins
Herz geschrieben: Die literarische Prahlerei des Ausonius ist für Augustinus achtbare Disziplin des Geistes.
Augustinus liefert uns die erste Beschreibung davon, wie ein Kind sich hoffnungslos in Literatur verliebt – eine nahezu körperlich spürbare Liebe. Wie kreative Kinder aller Zeiten verachtete er die ersten Schulaufgaben beim »Lesen, Schreiben und Rechnen«, weil sie reine 41
Auswendiglernerei waren: »›Eins und eins macht zwei; zwei und
zwei macht vier welch verhaßter Singsang.« Auch die ersten Grie-
chischstunden, die »Strafen und grausamen Drohungen« seines
Lehrers gefielen ihm nicht; und kurz und bündig formuliert er die Klage zahlloser Generationen von Schülern vor und nach ihm: »Bitter wie Galle war es, eine fremde Sprache zu lernen, denn ich verstand nicht ein Wort davon.« Doch nach all den ermüdenden Stunden
zähneknirschenden Rezitierens gibt man ihm echte Literatur in seiner Muttersprache zu lesen: »Ich liebte Latein... und ich beweinte den Tod der Dido, die sich ›mit einem Schwerthieb extrem verwundete‹.«
Wie die verzweifelte Dido, Königin des alten Karthago, sich selbst tötet, als ihr prächtiger Geliebter Aeneas den Anker lichtet und für immer davonsegelt, ist eines der eindrucksvollsten Bilder der klassischen Welt. Was Augustinus das Herz für die lateinische Literatur öffnete, seine Bibel und sein Shakespeare wurde, war Vergils Aeneis, das literarische Meisterstück der römischen Welt. Die Aeneis ist ein bewußt literarisches Epos, kein Volksepos wie die griechische Ilias.
Vergil nimmt den Faden dort wieder auf, wo Homer ihn fallenließ –
bei der Niederlage Trojas gegen die griechische Streitmacht, die die unbezwingbaren Mauern mit Hilfe eines »Geschenks«, eines riesigen, mit bewaffneten Männern bestückten Holzpferdes, überwindet –, und erzählt von den Taten seines Helden Aeneas, dem Sohn der Venus
und eines trojanischen Vaters. » Artna virumque cano « (»Waffen und den heldenmutigen Mann besiege ich«), beginnt Vergil mit einer
großen Trompetenfanfare. Wie jeder Vergil-Leser weiß, entkommt
Aeneas dem brennenden Troja; bei der Flucht trägt er seinen alten Vater auf dem Rücken und hält seinen kleinen Sohn an der Hand. Der Wanderer wird von der Königin Karthagos, die von seiner Geschichte gerührt ist, in Ehren willkommen geheißen. Dido und Aeneas verlie-ben sich ineinander, doch Aeneas – und auch der Leser – weiß immer, daß er, auch wenn es Dido das Herz brechen wird, weiterziehen muß, um die Stadt Rom zu gründen.
Vergil schrieb zur Zeit von Cäsar Augustus, dem ersten Kaiser, und konzipierte die Aeneis als Nationalepos (das einzige absolut erfolgrei-42
che in der Weltliteratur), das, kunstvoll orchestriert, im Leser eine Woge des Patriotismus für die heldenhaften Anfänge des Reiches
auslösen sollte. Die jüngere, weniger erprobte Zivilisation des lateinischen Westens, die die hohe Zivilisation des griechischen Ostens
sowohl politisch als auch kulturell absorbiert hatte, mußte eine eigene Legitimation für Herrschaft und Übermacht entwickeln. In den Augen der Griechen waren die Römer anmaßend und ungebildet. In den
Augen der Römer waren die Griechen Schlaumeier – und reichlich
zwielichtig. (Wenn ein einfacher, freimütiger Römer zusehen mußte, wie ein
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