Wie ein Haus aus Karten
Programm der Goldenen Hochzeit und eine Liste der Namen der siebenundneunzig Anwesenden in alphabetischer Reihenfolge bei. Sie gibt einen Einblick in das damalige Umfeld meiner Pflegeeltern. Dazu gehören neben der umfangreichen Familie der treue Chauffeur Walter Bauer und Klärchen ebenso wie Graf und Gräfin Landsberg und Irmgard von Opel. Auch der russische Cellist Mstislaw Rostropowitsch, der zu Ehren von Annemi und Josef Neckermann einige Bach-Solosonaten spielt, schmückt die Gästeliste. Angekündigt im Programm ist zudem ein Dia-Vortrag meines Stiefbruders Peter, der in der Familie von Jugend an die Rolle des Familienfotografen übernommen und akribisch wahrgenommen hat. Die Dias aus mehr als fünfzig gemeinsamen Jahren meiner Pflegeeltern zeigen eine glückliche Familie. Aber auch Peter verschweigt, lässt aus, lässt nicht zu.
Kein Foto ist von dem gerade verstorbenen Jo-Jo auf der Leinwand zu sehen, auch keines von der tödlich verunglückten, von allen geliebten Schwiegertochter Ingrun, obwohl deren Kinder Markus, Julia und Lukas anwesend sind. Als ich meinen Stiefbruder Peter an diesem Abend frage, warum er seine Schwägerin aus der Familienchronik gestrichen habe, antwortet er, dass er niemanden traurig machen wolle.
Auf einem Foto, das an diesem Abend nicht gezeigt wird, sind beide abgebildet: Ingrun und Jo-Jo. Die Braut beugt sich lächelnd zu dem etwa fünfjährigen Jungen hinunter, der in der Kirche Blumen gestreut hat. In großen Büscheln hat er sie aus dem Korb geworfen und bereits nach der Hälfte der Strecke zum Altar den gesamten Inhalt des Korbes verteilt. Das Foto, das nur die Köpfe der beiden, einander zugewandt, zeigt, strahlt fast unwirkliche Lebensfreude aus. So behalte ich sie in Erinnerung.
Jo-Jo wird auf den Hügeln von Cedar Valley auf dem höchsten Punkt des kanadischen Newmarket begraben, wo meine Stiefschwester Evi Pracht mit ihrer Familie lebt. Der Friedhof ist Tag und Nacht geöffnet und ganz in der Nähe ihres Hauses, so dass Evi, wie sie schreibt, »immer mal schnell bei ihm vorbeischauen« kann.
*
Im Verhältnis zwischen Annemi und ihren eigenen Kindern hat das Thema Dankbarkeit wohl keine wesentliche Rolle gespielt. In der Beziehung zwischen den Pflegeeltern und den Pflegekindern ist es allgegenwärtig. Der unausgesprochene Vorwurf der Undankbarkeit bestimmt über Jahrzehnte das Verhalten zwischen Annemi und den drei Lang-Töchtern. Miteinander darüber geredet haben wir nie. Natürliche, selbstverständlich beanspruchte Rechte wie die zwischen Eltern und Kindern gibt es nicht und können darum auch nicht eingefordert werden. Dankbarkeit bekommt einen bitteren Beigeschmack. Die Tragik dieser Beziehung sehe ich heute in der Unfähigkeit aller Beteiligten, der Pflegeeltern wie der Pflegekinder, auch wenn die Rollen ungleich verteilt sind, sich dieses Verhaltensmuster bewusst zu machen und gemeinsam zu durchbrechen: das der Gebenden und das der Nehmenden, das der Dankbarkeit Fordernden und das der Undankbaren.
Als ich dieses über Jahrzehnte verinnerlichte und fast ebenso lang nicht in Frage gestellte Muster schließlich doch durchbreche, gerät das Beziehungsgebäude zwischen mir und den Pflegeeltern und damit auch der Familie aus den Fugen. Es fällt wie ein Haus aus Karten in sich zusammen.
Aus meinen zunächst kindlich-trotzigen, später ironisch-überheblichen Versuchen, die Bindung an meine Pflegefamilie zu lösen und damit auch den emotionalen Mangel, die Einsamkeit und die Enttäuschung dieser Jahre hinter mir zu lassen, ohne zu erkennen, wie sehr mich diese Phase meines Lebens geprägt hat, erwachsen mir im Widerstand ungeahnte Kräfte.
Der Kontakt zu meinen Pflegeeltern ist dennoch nie abgebrochen, allerdings auch nicht weiter belastbar. Während des sich viele Jahre hinziehenden Krebsleidens meiner Pflegemutter, das sie trotz ihrer unerbittlichen Disziplin und unzähligen Operationen nicht bezwingen kann, besuche ich sie mehrmals in ihrem letzten Zuhause im Nachbarort Dreieichenhain, wohin Annemi und Necko nach dem Verkauf ihres Anwesens in Kirchborn gezogen sind. Statt in einem weiträumigen herrschaftlichen Landhaus mit Vorfahrt, das genauso gut in Beverly Hills hätte stehen können, wohnen sie nun in einer von vielen Villen, die sich wie Handtücher an der Wäscheleine aufreihen. Annemi und Necko fühlen sich wohl dort. Vielleicht, weil das neue Zuhause ihren veränderten finanziellen Verhältnissen und ihren persönlichen Bedürfnissen entspricht, zu
Weitere Kostenlose Bücher