Aldebaran
1 Ein grauer Morgen, Bésame mucho pfeifend
Marseille trug an diesem Morgen die Farben der Nordsee. Diamantis stürzte in der verlassenen Messe einen hastig gebrühten Nescafé hinunter, dann stieg er aufs Deck hinab, Bésame mucho pfeifend, die Melodie, die ihm am häufigsten in den Kopf kam. Genau genommen die einzige, die er pfeifen konnte. Er zog eine Camel aus einer zerknitterten Schachtel, steckte sie an und lehnte sich an die Reling. Diamantis störte dieses Wetter nicht. Heute jedenfalls nicht. Seine Stimmung war schon seit dem Aufstehen trübe.
Er ließ seinen Blick über das Meer schweifen, weit hinaus, als ob er so den Moment hinausschieben könnte, in dem er wie jeder von der Besatzung der Aldebaran eine Entscheidung treffen musste. Entscheiden war nicht seine Stärke. Seit fünfundzwanzig Jahren ließ er sich vom Leben treiben. Von einem Frachter zum nächsten. Von einem Hafen in den anderen.
Ein Gewitter zog auf, und die Frioul-Inseln in der Ferne waren nur noch ein dunkler Fleck. Man konnte kaum den Horizont erkennen. Ein wahrhaft aussichtsloser Tag, dachte Diamantis. Ohne sich einzugestehen, dass die letzten Tage nicht anders gewesen waren. Fünf Monate lagen sie nun schon an der Kette, die Seeleute von der Aldebaran, ans äußerste Ende des sechs Kilometer langen Digue du Large verbannt. Weit weg von allem. Nichts zu tun. Und ohne Geld. In Erwartung eines Käufers für diesen elenden Frachter – aber niemand wusste, ob je ein Käufer auftauchen würde.
Die Aldebaran war am 22. Januar in Marseille eingelaufen. Aus La Spezia in Italien, um zweitausend Tonnen Mehl für Mauretanien aufzunehmen. Alles hatte geklappt, doch drei Stunden später legte das Handelsgericht das Schiff an die Kette. Als Sicherheit für Schulden ihres Reeders. Constantin Takis, ein Zypriote. Seitdem war er wie vom Erdboden verschluckt. »Verdammter Hurensohn«, hatte Abdul Aziz, Kapitän der Aldebaran, nur gesagt und den Gerichtsbescheid angewidert an seinen Ersten Offizier Diamantis weitergereicht.
In den ersten Wochen hatten sie noch geglaubt, dass die Sache sich schnell aufklären würde. Seeleuten fehlt es nicht an Hoffnung. Im Gegenteil, die Hoffnung hält sie am Leben. Wer auch nur einmal in seinem Leben zur See gefahren ist, weiß das nur zu gut. Um den Tatsachen nicht ins Gesicht sehen zu müssen, taten Abdul Aziz, Diamantis und die sieben Männer der Besatzung jeden Tag so, als würden sie am nächsten Morgen auslaufen. Maschinen warten, Deck schrubben, elektrische Anlagen überprüfen, Kommandobrücke kontrollieren.
Das Leben an Bord musste weitergehen. Das war die Hauptsache.
Abdul Aziz bewies seinen Männern, dass er bei den Plackereien an Land ein ebenso guter Kapitän war wie auf hoher See. Um die Aldebaran bildete sich – ohne Zweifel dank seines Organisationstalents – schnell eine Welle der Solidarität. Armenküchen lieferten Nahrung und Getränke. Löschboote versorgten sie mit Trinkwasser. Die Hafenverwaltung sorgte für die Müllabfuhr und die Reinigung der Wäsche. Und – welche Erleichterung – seit dem dritten Monat schickte die Seemannsmission den Not leidenden Familien Geld.
»Ein Glück, dass wir hier festsitzen«, hatte Abdul gesagt. »Woanders hätten wir krepieren können. Du siehst, Diamantis, ich mag diese Stadt.«
Auch Diamantis liebte Marseille. Schon bei seinem ersten Landgang hatte er sich in die Stadt verliebt. Er war knapp zwanzig gewesen. Schiffsjunge an Bord des Trampschiffes Ecuador, eines alten, verrosteten Frachters, der nie über Gibraltar hinausgekommen war. Diamantis konnte sich gut an jenen Tag erinnern. Die Ecuador war um die Riou-Inselgruppe herumgefahren und dann, hinter den Frioul-Inseln, hatte sich die Reede vor seinen Augen aufgetan. Wie ein Streifen aus weiß-rosa Licht, der das Blau des Himmels vom Blau des Meeres trennte. Wie eine Erleuchtung. Marseille, hatte er damals gedacht, ist eine Frau, die sich denen anbietet, die vom Meer kommen. Er hatte das sogar in seinem Bordbuch notiert. Ohne zu wissen, dass er damit den Gründungsmythos der Stadt ausdrückte. Die Geschichte von Gyptis, jener ligurischen Prinzessin, die sich Protis, dem phokäischen Seemann, in der Nacht hingab, in der er in den Hafen einlief. Seitdem hatte Diamantis seine Landgänge nicht mehr gezählt.
Aber jetzt war alles anders. Sie waren in Marseille gestrandet – verlorene Seeleute. Diamantis hatte das am Ende des ersten Monats begriffen. Als man sie aufforderte, Mole D zu verlassen und an
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