Wie ein Haus aus Karten
Dir viele liebe Grüße. Ich hab Dich sehr, sehr lieb. Deine Mady«. Auf dem Zettel steht kein Datum, eine Nachlässigkeit, die auch bei fast allen Briefen meiner Mutter festzustellen ist und die die chronologische Zuordnung ihrer umfangreichen Korrespondenz sehr erschwert hat.
Im späteren Hochzeitsbuch wird diese Begegnung in blumigen Versen geschildert: »… rief man in Würzburg all/die Gäste hin zum flotten Bühnenball/Und hier – o lasst die Herzen höher schlagen/hat sich das hehre Schicksal zugetragen/dass Mady ihren Hansi erstmals sieht./Man steht, bestaunt sich und das Herz erglüht.« Dass meine Mutter rettungslos und romantisch verliebt ist, macht auch ein Foto von 1928 deutlich. Es zeigt ihren Arbeitstisch, der von einem gerahmten Porträt meines Vaters beherrscht wird. Links und rechts davon stehen Vasen mit Rosen und Margeriten, auf der Tischplatte sind Rosenblätter drapiert. Das Stillleben erinnert mich unwillkürlich an den Maialtar meiner Großmutter Neckermann, nur dass die Anbetung meiner Mutter nicht der Heiligen Maria gilt, sondern meinem Vater.
Jula Neckermann ist von dem Verehrer ihrer Tochter Mady beeindruckt, von seiner eleganten Erscheinung, seinen gewandten Umgangsformen und seinen wissenschaftlichen Erfolgen. Auch sein selbstsicheres Auftreten gefällt der stolzen Frau. Vielleicht erinnert er sie auch an ihren gerade erst verstorbenen Mann Josef Carl. Ihre beiden Söhne Josef und Walter dagegen stehen dem forschen Eindringling in die Neckermann-Familie von Beginn an skeptisch gegenüber.
Viel Zeit bleibt Jula nicht, die Qualitäten und Mängel ihres zukünftigen Schwiegersohns genauer unter die Lupe zu nehmen, denn ihre Tochter stellt sie vor ein Ultimatum. Mady erklärt, dass sie sich umbringen werde, wenn sie ihren Hans nicht heiraten dürfe. Dabei reißt sie sich vor den Augen ihrer überraschten Mutter mit einer theatralischen Geste die Kleider vom Leib. Statt auf Hochzeitsreise zu gehen, wird Mady in ein Mädchenpensionat nach England geschickt, wo sie sich mit der kalorienreichen Internatskost über ihren Kummer hinwegzutrösten versucht.
Wenn sich ihr übermäßiger Appetit auch nicht gerade vorteilhaft auf ihre Figur auswirkt, ein Gutes hat er doch: Ihre Mutter erkennt, wie ernst es der Tochter mit der ersten und einzigen großen Liebe ihres Lebens ist. Dass sie schließlich der Hochzeit zustimmt, liegt aber nicht nur am Kummerspeck, sondern auch an Madys unmissverständlicher Drohung, sie werde nicht länger Jungfrau bleiben können. Der Hochzeitstermin wird festgesetzt, und meine Mutter nimmt so schnell wieder ab, wie sie die Pfunde zugelegt hat.
Auf der ersten Aufnahme, die Mady zusammen mit ihrem Verehrer, dem Referendar der Rechte Dr. Hans Lang, zeigt, wirkt sie in ihrem Matrosenkleid, den blickdichten Strümpfen und mit einer Größe von einem Meter achtzig eher mächtig und etwas steif. Auf einem anderen Foto tanzt sie, immer noch füllig, aber inzwischen wieder beschwingt, im weißen Spitzenkleid, einen Blumenkranz im Haar, mit ihren Freundinnen einen Reigen. Und während sie auf einem weiteren Bild aus dieser Zeit noch in einem schwarzen, hochgeschlossenen Kleid mit streng nach hinten gekämmten Haaren zu sehen ist, bietet ein Foto, das wenige Monate danach entstanden ist, einen anderen Anblick: Die sichtlich erblondeten Haare sind in großen Locken hochgesteckt, die schlanken, überlangen Beine schauen frech unter einem geblümten Rock hervor, und der burschikose Matrosenkragen von einst ist einem Dekolleté gewichen, das die mädchenhaften Rundungen ihres Busens erahnen lässt. Ihre Körpergröße betont Mady nun selbstbewusst durch hohe Absätze. Zwischen den beiden Aufnahmen liegen Welten, und doch ist nur ein Jahr vergangen, das entscheidende Jahr ihres Lebens. Meine Mutter hat geheiratet.
Die kirchliche Trauung findet am 26. April 1930 in der Hofkirche zu Würzburg statt. Sie, Maria Jula Babetta Neckermann, genannt Mady, ist einundzwanzig, der Referendar und Doktor der Rechte Hans Lang vierundzwanzig Jahre alt. Als Trauzeugen sind in der Heiratsurkunde Nr. 241, Aufgebotsverzeichnis 289, die beiden Mütter angegeben: die Großkaufmannswitwe Jula Neckermann, einundfünfzig Jahre, und Margareta Lang, sechsundfünfzig Jahre. Das Hochzeitsfoto, das, wie damals üblich, sehr formell wirkt, zeigt ein elegantes, schönes Paar, das ernst in die Kamera blickt: der Bräutigam im Cut, die Braut in einem langen, fließenden Seidenkleid. Der Schleier, unter dem die
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