Wie ein Haus aus Karten
denn, und das ist der entscheidende Ansatz für die Akzeptanz meiner Pflegemutter, Angélique liebt in Wahrheit nur einen, ihren Mann, den sie in allen Romanen und später auch Kinoverfilmungen sucht. Angélique hat aber noch einen weiteren Pluspunkt in Annemis Augen: Sie ist ihren Kindern eine liebevolle Mutter, obwohl die Unbill ihres unsteten Lebens sie immer wieder von ihnen trennt. Vielleicht hat diese Lektüre meiner Pflegemutter dabei geholfen, den Zwängen, die zunehmend auf ihrem Leben lasten, denen von außen und denen von innen, wenigstens ein paar Buchseiten lang zu entkommen.
Den vertrautesten Kontakt hat Annemi in all den Jahren zu Evi, daran ändert sich auch nichts, als ihre Tochter mit ihrer Familie nach Kanada auswandert. Evi telefoniert mit wenigen unvermeidlichen Ausnahmen ihr ganzes Leben lang täglich mit ihrer Mutter und bleibt bis zu deren Tod ihr kleines Mädchen. Die ein ganzes Leben andauernde symbiotische Beziehung zwischen Mutter und Tochter spiegelt ein Gruppenfoto wider, das auf einem Familienfest im Schlosshotel Kronberg aufgenommen wurde. Es zeigt die Familie auf der breiten Schlosstreppe, diesmal ohne die angeheirateten Ehepartner und die inzwischen dazugekommenen Enkel. Neun Menschen sind darauf abgebildet. Auf der obersten Stufe rechts und links im Bild stehen meine Schwester Juli und die Stiefschwester Sigrid Apitz. Beide lächeln, den Kopf zur Seite geneigt, in die Kamera. Sie wirken freundlich, aber unscheinbar. Darunter in der Mitte befindet sich meine Schwester Uschi im schwarzen Abendkleid mit Perlenschmuck an Ohren und Hals. Sie sieht elegant und attraktiv aus, und sie weiß es. Die rechte Bildseite neben ihr füllt, breitbeinig und selbstbewusst, mein Stiefbruder Johannes aus. Mit den damals modischen, von seinen Geheimratsecken ablenkenden Koteletten, der breiten Krawatte und der weißen Weste erinnert er mich in seiner lässigen, dandyhaften Pose an den jungen Josef. Links neben Uschi blicke ich braungebrannt und fröhlich in die Kamera. Was man auf diesem Bild nur andeutungsweise sieht: Ich trage einen rot-grün-goldenen Chiffonanzug mit kurzen Pluderhosen, mit dem ich im Kontrast zu den übrigen Frauen der Familie in ihren eleganten langen Abendroben wie ein schillernder Paradiesvogel wirke.
Die unterste Treppenstufe gehört, von Peter und Necko stolz eingerahmt, meiner Pflegemutter und ihrer Tochter Evi. Sie sind der strahlende Mittelpunkt, der alle Blicke auf sich vereint. Dicht aneinandergeschmiegt, wirken sie auch optisch wie eine Einheit. Mutter und Tochter tragen weiße, bodenlange, verspielte Abendkleider, duftig wie ein Frühlingshauch. Der Unterschied der Roben liegt nur im Detail: Das Kleid meiner Stiefschwester Evi ist mit goldenen Pailletten und einem goldenen Seidengürtel geschmückt, das ihrer Mutter mit einem lilafarbenen Seidengürtel und zartlila Blümchen. Bis auf diese Details gibt es keine Unterschiede zwischen den Frauen, nicht in der Ausstrahlung und nicht in der Größe. Selbst die Haarfarbe, ein in Goldtönen leuchtendes Blond, der kurze dauergewellte Haarschnitt, die Lippen und das Lächeln sind identisch.
Meine Stiefschwester Evi, die ebenso Zarte wie Zähe, die mit dergleichen Besessenheit wie ihr Vater, jedoch ohne seine herausragende Begabung Dressur reitet, heiratet, als sie erkennt, dass sie nicht bis ans Ende ihres Lebens mit ihrer Mutter zusammen sein kann, und bekommt zwei Kinder: Josef Johannes, Jo-Jo genannt, und Martina.
Ihr Erstgeborener, Jo-Jo, ist mit seinen schwarzen Haaren und seinen ebenso schwarzen, strahlenden Augen ein auffallend schönes Kind. Er ähnelt der ersten großen Liebe meiner Stiefschwester, einem kleinen Jungen namens Oliver Grimm, aufs Haar. Sie hat ihn in ihr Herz geschlossen, seit sie den etwa Sechsjährigen 1955 an der Seite von Heinz Rühmann in dem Film »Wenn der Vater mit dem Sohne« zum ersten Mal auf der Leinwand sieht. Später begegnet sie ihm leibhaftig, als sie über die Filmagentur die Adresse des Jungen und seiner Familie ausfindig macht. Nach einem Besuch bei Kaffee und Kuchen steht für sie fest, so soll auch ihr Sohn aussehen. Und er tut es. Jo-Jo ist ein besonders hübscher Junge, später ein schöner junger Mann, und er hat Geschmack. Auf Familienfesten, bei denen, um die Tanzpaare zu mischen, alle Damen einen Schuh in einen Korb legen müssen, ist es der sechsjährige Jo-Jo, der für jeden Tanzpartner einen Schuh und damit dessen Tänzerin auswählt. Stilsicher greift er immer erst
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