Wie ein Haus aus Karten
warten zu können. Als Jo-Jo glaubt, an jenem 16. August 1984 könnte der gefürchtete Zeitungsartikel über den Neckermann-Enkel, der angeblich seine ehemalige Freundin vergiften wollte, erscheinen, sieht er, verstrickt in ein Netz aus Ausweglosigkeit und Abhängigkeit, nur noch den einen Ausweg. In seinem Abschiedsbrief bittet Jo-Jo um Verständnis für seine Tat, denn es sei ihm unmöglich, »seinen Großeltern nochmals unter die Augen zu treten«.
Die Familie sitzt beim Mittagessen im Haus meiner Pflegeeltern. Die leiblichen Kinder, Peter, Evi und Johannes, sind zur Feier der Goldenen Hochzeit aus den USA eingetroffen, die Haushälterin Maria serviert gerade eine Früchteplatte zum Nachtisch, als das Telefon klingelt und mein Stiefbruder Johannes den Hörer abnimmt. Am anderen Ende ist die Polizei. Es gibt keine Worte, und es gibt keinen Trost, es gibt nur Disziplin. Ein für den gleichen Abend angesetztes Essen im Gut Neuhof wird nicht abgesagt. Annemi besteht darauf, dass ihre Tochter Evi trotz des unfassbaren Verlustes mitgeht. Evi gehorcht, so wie sie es immer getan hat.
Die Haushälterin Maria Engelberti fährt Evi und deren Mann Hans zur Beerdigung. Er kommt nicht darüber hinweg, dass sich sein Sohn das Leben genommen hat. »Selbstmörder«, sagt er zu seiner Frau, und Maria betrachtet ihn nachdenklich im Rückspiegel, »wurden früher nicht katholisch beerdigt.« In der Kirche, hinten beim Eingang, steht Jo-Jos ehemalige Freundin Silke. Auch sie möchte sich von dem Toten verabschieden, wird aber von einer Freundin der Familie Neckermann aus der Kirche gewiesen. Silke ist in den Augen der Anwesenden die Schuldige.
Jahre später sieht Necko die junge Frau wieder, da sie im selben Geschäftshaus in Frankfurt arbeitet, in dem er sein letztes Büro hat. Als er nach Hause kommt, meint Necko zu seiner Haushälterin Maria: »Sie ist eigentlich ein nettes Mädchen.«
Bei der Trauerfeier für seinen Enkel Jo-Jo ist mein Pflegevater noch anwesend, zum Grab geht er nicht mit. Er kann den Schmerz nicht mehr ertragen. Eine befreundete Ärztin bringt ihn nach Hause. Mein Pflegevater schreibt in seinen Erinnerungen, und aus den Zeilen ist zu spüren, dass er den Tod seines Enkels nie überwinden wird: »Ein harmloser Dummejungenstreich war ihm zum Verhängnis geworden.« Doch er weiß auch, und diese Erkenntnis hat ihn tief getroffen, dass sein Enkel ein Opfer des übermächtigen, auf Leistung und Erfolg basierenden Systems Neckermann geworden ist. In seinen Erinnerungen schreibt Necko über seinen Enkel: »Er litt unter der Übermacht unseres Namens, fand für sich kaum Möglichkeit, er selbst zu sein: Jo-Jo Pracht.«
Wie tief der Tod ihres Enkels meine Pflegeeltern getroffen haben muss, ist während ihrer zwei Tage später offiziell begangenen Goldenen Hochzeit nur zu erahnen und später Neckos Erinnerungen zu entnehmen. Wie immer gilt auch für den Tag, der die Krönung ihrer Ehe sein sollte und der von einer unfassbaren Tragödie überschattet wird, das Familienprinzip: Haltung bewahren. Annemi und Necko tun es, und sie erwarten es von allen Anwesenden. Eine Begnadigung gibt es nicht. Meine Pflegeeltern haben auch mit sich keine Gnade. In meiner Erinnerung sehe ich kein einziges Bild von diesem Tag vor mir, auf dem sich die Familienmitglieder tröstend in die Arme nehmen, auch nicht während des abendlichen Festes, das wie geplant im Schlosshotel Kronberg stattfindet. Nur die Tanzkapelle wird ausgeladen.
Die Trauer hat sie nicht vereint, die Familie und die engen Freunde, die an den Feierlichkeiten der Goldenen Hochzeit meiner Pflegeeltern in der Kirche und später im Schlosshotel teilnehmen. Ein rauschendes Fest ist es nicht mehr geworden, aber auch kein besinnliches. Das Schweigen und Verschweigen, das schwer auf allen Anwesenden lastet, aber von niemandem durchbrochen wird, beginnt am Morgen beim ökumenischen Gottesdienst in der katholischen Kirche in Götzenhain. In der sechs Seiten langen Rede des Pfarrers Gerhard Zühlsdorf kommt das Wort Tod nicht vor. Er spricht nur von der »tragischen Weise, unter der der Enkel hergegeben werden musste«. Der Enkel aber wurde nicht hergegeben, er hat sich hingegeben, einem Opferlamm gleich. Der Pfarrer nennt nicht einmal den Namen des Toten. Jo-Jo Pracht bleibt anonym. Er ist ein trauriger Held, und traurige Helden feiert man nicht. Sie werden totgeschwiegen. Ein zweifacher Tod.
Dem Dankschreiben, das Annemi und Necko später an alle Gäste schicken, legen sie das
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