Wie ein Haus aus Karten
besitze ich noch heute.
Mein Pflegevater verändert sich in seinem letzten Lebensjahrzehnt zusehends. Er wird weicher, duldsamer, beinahe zugewandt. Er ist ein geliebter, liebevoller und gelegentlich polternder Großvater für seine vielen Enkel. Da er während gemeinsamer Essen hin und wieder mit der Faust auf den Tisch schlägt, nennen sie Necko eher liebevoll als ängstlich »Opa Donnerwetter«. Während er sich früher, unzufrieden über die sportlichen Leistungen der eigenen Kinder, verbal von ihnen distanzierte, indem er Annemi erklärte: »Deine Kinder kapieren es nie«, und sich dabei aus Wut den Hut über Augen und Ohren zog, ist das bei den Enkeln anders. Auf sie lässt er nichts kommen.
Die von Karin Weingart und Harvey T. Rowe gegen Ende seines Lebens aufgezeichneten Erinnerungen meines Pflegevaters, die zwei Jahre vor seinem Tod erscheinen, haben den alternden, nachdenklich gewordenen Mann tief bewegt. Es wühlt ihn sichtlich auf, noch einmal so intensiv in seine Vergangenheit einzutauchen, die er, bis dahin ganz auf die Zukunft gerichtet, durch eigene Recherche und mit der Unterstützung zahlreicher Helfer zutage fördert. Auch Ansätze von Selbstzweifeln bahnen sich einen Weg. Necko telefoniert während dieser Zeit oft mit meiner Schwester Uschi, mit alten Freunden und entfernten Verwandten. Er nimmt Kontakt zu Menschen auf, die er schon fast vergessen hat, und dies nicht nur, weil er sie um Hilfestellung beim Erinnern bittet, sondern weil er bei seinen Nachforschungen plötzlich wieder an sie denkt.
Die Beschäftigung mit seiner Vergangenheit bringt für meinen Pflegevater auch zwielichtige und dunkle Momente zurück. Der Wunsch, sie nach Jahrzehnten doch noch zu erhellen, ist groß. Es ist nicht nur Ruth Gatzke, die ehemalige Sekretärin meines Vaters, mit der Necko in dieser Zeit wieder sprechen möchte. Er hat es versucht. Auf ihre Rückrufe, von Neckos lebenslanger Vertrauten Gerda Singer entgegengenommen, bekommt Ruth keine Antwort. Gerda Singer veranlasst und überwacht auch die Entsorgung von unzähligen Akten ihres Chefs, den sie in Gegenwart anderer immer mit »Herr Neckermann« anspricht. Zwei Tage vor dessen Tod bringt der letzte Privatchauffeur meines Pflegevaters, Herr Messmer, Stapel von Akten vom Büro in das Haus im Hainerweg, um sie dort in den Container zu werfen. Die Haushälterin Maria Engelberti wundert sich beim Anblick der unzähligen Ordner mit den Namen ihr bekannter und unbekannter Personen und denkt: »Das ist ja wie bei der Stasi.«
Nach Annemis Tod schreibt mein Pflegevater ein Testament. Maria Engelberti kann sich noch an den Tag erinnern, da die Abreise ins Ferienhaus nach Rottach bevorsteht. Es dauert lange, bis er fertig ist. Necko kann nur unter großen Anstrengungen schreiben, da die Gicht die Hände fast steif hat werden lassen. Aus diesem Grund wird in den letzten Jahren seines Lebens ein Stempel mit seinem Namenszug als Unterschrift anerkannt, den nur er besitzt. Als Necko an diesem Tag endlich den Füllfederhalter zur Seite legt, nachdem er das Testament eigenhändig zu Papier gebracht hat, sagt er zu Maria: »Da steht auch was für dich drin.« Eine ähnliche Äußerung hat Necko auch gegenüber meiner älteren Schwester Uschi gemacht. Nach offiziellen Angaben gibt es kein Testament.
Als mein Pflegevater 1990 mit einem Herzinfarkt im Bürgerhospital in Frankfurt liegt, besuche ich ihn. Abgesehen davon, dass er in einem Einzelzimmer liegt, weist nichts auf den berühmten Patienten hin. Nur wenige Blumensträuße stehen auf dem Tisch vor dem Fenster. Ich bin der einzige Besuch, und er freut sich sichtlich. Mitten im Gespräch unterbricht er mich, weil ihm etwas von weit her in den Sinn gekommen ist. Er macht sich Vorwürfe, dass er mir seiner Ansicht nach beim Verkauf meines Grundstücks in Dreieichenhain nicht geholfen habe. Ich hatte das Gelände, das ich während meiner ersten Ehe gekauft habe, ebenso vergessen wie den späteren Verkauf nach meiner Scheidung.
Näher hätte es gelegen, dieses Gespräch unter vier Augen dazu zu nutzen, meinen Pflegevater endlich viele Dinge zu fragen, zu denen ich früher nicht den Mut hatte. Ich habe ihn noch immer nicht, vielleicht auch weil ich die Nähe zwischen uns nicht zerstören möchte.
Stattdessen spricht Necko von seiner Mutter und meint enttäuscht, so als wäre er noch der kleine Junge von damals: »Mutsch hat Walter mehr geliebt als mich.« Sich im Krankenbett aufsetzend, fügt er wie zur Erklärung hinzu:
Weitere Kostenlose Bücher