Wie ein stummer Schrei
Hin und wieder spürte sie ein leichtes Stechen, vor allem wenn sie etwas Schweres hob, obwohl sie das nicht sollte.
Foster Lawrence war aus der Haft entlassen worden und hatte es – dank der Einladung seiner Schwester – endlich nach Florida geschafft. Er zog bei Sheree ein und würde vorläufig bei ihr wohnen.
Rose war gleich nach Annas Verhaftung zu Olivia gekommen, um nach ihr zu sehen. Olivia war noch in der Lage gewesen, über das Geschehene zu reden, und sie merkte auch, dass Rose ein wenig beleidigt war, da sie sich übergangen fühlte, doch sie konnte nichts daran ändern. Sie brauchte ihre ganze Kraft, um ihre eigenen Ängste und Zweifel in den Griff zu bekommen.
Tagsüber half es ihr, dass Ella gleich nebenan wohnte und immer einen Ratschlag griffbereit hatte. Und die Nächte wurden in dem Moment erträglich, wenn sie sah, wie Trey nach Feierabend nach Hause gefahren kam.
Die Distanz, die zwischen ihrem Großvater und ihr entstanden war, hatte mit ihr allein zu tun. Er wollte mit ihr über die Vergangenheit reden, doch egal, was er sagte, sie glaubte ihm nicht. Sie wusste nicht mal, ob er ihr je wieder in die Augen würde sehen können, ohne an das zu denken, was Anna enthüllt hatte. Erst einmal musste sie die Abscheu überwinden, die sie empfand, wenn sie sich im Spiegel betrachtete.
Über Tage hinweg hatte sie immer wieder ihr Spiegelbild studiert, ob sie bei sich etwas von den Gesichtszügen der jungen Anna entdecken konnte. Ob da etwas war oder nicht, wusste sie nicht, da der gequälte Ausdruck in ihren Augen das Einzige war, was sie wahrnahm. Sie hatte auch keine Ahnung, was sie machen sollte, wenn sich ihre schlimmsten Befürchtungen bewahrheiten würden.
Trey schenkte ihr Kraft und Liebe. Nur durch ihn war es ihr überhaupt möglich, das alles zu ertragen. Sie klammerte sich daran fest, dass er ihr glaubte, und hoffte, das würde genügen.
Dann auf einmal klingelte das Telefon.
“Hallo?” meldete sie sich.
“Ich bin’s. Du musst aufs Revier kommen.”
“Jetzt sofort, Trey? Aber ich …”
“Ein Wagen ist unterwegs, um dich abzuholen. Er wird in fünf Minuten bei dir sein. Marcus ist auch schon auf dem Weg hierher.”
In dem Moment verstand sie. “Das Testergebnis liegt vor, richtig?”
“Ja.”
“Sag mir, was …”
“Nicht jetzt. Ich erkläre alles, wenn ihr beide hier seid. Ich muss jetzt los. Anna wird aus dem Krankenhaus hergebracht.”
“Warum? Ich will sie nicht sehen.”
“Das wirst du aber müssen. Bitte. Vertrau mir.”
“Ja, okay.”
“Danke, Baby. Bis gleich.”
Sie legte auf, zog sich rasch um, da sie noch den Bikini trug, und war gerade rechtzeitig fertig, als an der Tür geklopft wurde. Ein Kollege von Trey war gekommen, um sie abzuholen. Der Weg zum Revier sollte die längste halbe Stunde ihres Lebens werden.
Marcus traf kurz nach Olivia ein, die zusammen mit Trey bereits auf ihn wartete. Er schob trotzig das Kinn vor, da er so wenig wie Olivia daran interessiert war, Anna Walden noch einmal sehen zu müssen. Doch Trey hatte darauf beharrt, und schließlich war er einverstanden gewesen, weil er das endgültige Ergebnis erfahren würde.
“Das ist einfach lächerlich”, murrte er, während Trey voranging.
“Für mich ist das Ganze auch ein Albtraum gewesen”, gab der zurück. “Das können Sie mir glauben.”
Olivia hakte sich bei ihm unter und drückte leicht seinen Arm. “Ich bin auf deiner Seite.”
Trey blieb stehen und küsste sie. “Ich weiß, Honey. Es tut mir Leid, wenn ich so schroff war.”
Sie bogen um eine Ecke und näherten sich einem Fenster, vor dem ein halbes Dutzend Leute stand. Als sie dazukamen, sah Olivia im Raum nebenan Anna an einem Tisch sitzen.
“Marcus, Olivia, das ist mein Vorgesetzter, Lieutenant Harold Warren, und Detective Rodriguez und Detective Sheets kennt ihr ja bereits.”
Beide nickten.
“Der Rest gehört zur Staatsanwaltschaft, vorstellen kann ich jeden Einzelnen später noch. Wir gehen jetzt erst einmal rein. Von hier kann man alles sehen und hören, was drinnen vorgeht, aber von drinnen ist diese Scheibe ein Spiegel. Alles klar?”
“Ja”, sagte Marcus und nahm Olivias Hand. Olivia wollte noch einige Fragen stellen, doch bevor sie dazu kam, wurden sie bereits in das Verhörzimmer gebracht.
“Setzt euch”, sagte Trey. “Egal wo.”
Marcus und Olivia entschieden sich für zwei Stühle, die von ihrem ehemaligen Kindermädchen möglichst weit entfernt waren, während Trey eine Akte aufschlug
Weitere Kostenlose Bücher