Versuchung in blond
1. KAPITEL
Jake Cavanaugh kannte die Staatsstraße 84 - von den Einheimischen wurde sie Alligator Alley genannt - wie seine Hosentasche. Er kam schon seit einer halben Ewigkeit immer wieder zum Angeln an den Lake Muskogee, aber jetzt zermürbte es ihn, nachts hier draußen zu sein. Die erbarmungslose Dunkelheit bewirkte, dass er Platzangst bekam. Dabei gab es hier, in den Weiten der Everglades, mehr Raum als an den meisten Orten, an denen er jemals gewesen war. Trotzdem fuhr er die ganze Zeit mit geschlossenem Fenster.
Er wusste nicht einmal, warum er hier war. Er hätte bis zum Morgen in der Blockhütte bleiben sollen. Aber er hatte die Stille einfach nicht mehr ausgehalten. Er schlief derzeit mit einem bisschen Verkehrslärm und eingeschaltetem Fernseher einfach ruhiger, alles war besser als die gnadenlose Stille. Wenn es so totenstill war wie jetzt, fingen seine Gedanken an sich im Kreis zu drehen und kehrten wieder und wieder in die Vergangenheit zurück.
Ein Schnüffeln vom Rücksitz seines Pick-ups her zauberte ein Lächeln auf sein ernstes Gesicht. Bis vor kurzem hatte er nicht einmal die Gesellschaft eines Hundes ertragen können. Er spannte den Oberschenkel an und spürte das vertraute Stechen im Knie, als sich das Narbengewebe über dem Muskel spannte. Sofort waren alle Erinnerungen wieder da - die dunkle Seitenstraße, das grelle Mündungsfeuer, Charlies Schrei, gefolgt von seinem eigenen Stöhnen.
Der dumpfe Schmerz, den er jetzt in seinem Knie verspürte, war nichts gegen die innere Qual, die die Erinnerung an damals in ihm auslöste. Nach dem Zwischenfall waren seine Sinne von einer ganz anderen Art von Schmerz betäubt worden. Von dem demütigenden Schmerz, seinen Job und seine Frau zu verlieren. Margos Anschuldigung, dass er seinen Job mehr liebte als sie, hatte ihn tief getroffen … vor allem, weil sie berechtigt war.
Eingehüllt in die erstickende Decke seiner Vergangenheit, blieb Jake kaum genug Zeit auf die schemenhafte Gestalt auf der Straße vor sich zu reagieren. Er bremste scharf ab, dankbar dafür, dass in dieser lange zurückliegenden Nacht sein linkes Bein verletzt worden war. Jahrelanges Training und Erfahrung ließen sein rechtes automatisch funktionieren. Er umklammerte das Lenkrad fester, als die Reifen kurz die Haftung verloren, der Wagen jedoch dann die Spur hielt. Während er beobachtete, wie die Gestalt auf der Straße unausweichlich näher kam, nahm er vage den in der Luft liegenden Geruch verschmorten Gummis wahr.
Als er sich schon von seinem Glück verlassen glaubte und einen Zusammenstoß für
unvermeidlich hielt, kam sein Pick-up ruckartig zum Stehen. Jake schloss die Augen und atmete aus, obwohl ihm gar nicht klar gewesen war, dass er die Luft angehalten hatte. Er blinzelte. Wenn er nicht befürchtet hätte, verrückt geworden zu sein, hätte er laut aufgelacht.
In der Mitte der Straße kniete ein Engel, mit geschlossenen Augen, die Hände wie zum Gebet erhoben. Angestrahlt von den starken Scheinwerfern sah er schön und zerbrechlich aus. Und entschieden fehl am Platz.
Jake brauchte einen Moment, um die Wahrheit zu erkennen. Ganz sicher war, dass es
sich hier nicht um seinen Schutzengel handelte. Und falls doch, war er zwei Jahre zu spät gekommen.
Die Frau öffnete ihre Augen und blinzelte in die Scheinwerfer. Jake tastete fluchend auf dem Armaturenbrett herum und machte das Licht aus. Es dauerte eine Weile, bis er sich an die plötzliche Dunkelheit gewöhnt hatte. In ihrer weißen Kleidung, die das Mondlicht reflektierte, wirkte die Frau wie eine Erscheinung aus einem Horrorfilm. Jake spürte, wie ihm ein Angstschauer über den Rücken kroch. Irgendetwas war faul hier, darauf hätte er seine Pension verwettet. Natürlich war von seiner Pension so gut wie nichts mehr übrig, deshalb riskierte er nicht viel bei dieser Wette.
Ohne die Gestalt auf der Straße aus den Augen zu lassen, öffnete er die Tür und stieg aus.
Das Knirschen des Kieses unter seinen Stiefeln war ein tröstliches Geräusch in dieser unwirklichen Situation. Er näherte sich der Gestalt so behutsam, wie er sich einem auf der Straße zusammengeklappten Junkie genähert hätte.
Sie sah entsetzlich aus. Ihr schulterlanges blondes Haar war verfilzt, auf einer Wange prangten Schmutzstreifen. Ihre viel zu weiten Kleider waren nass, und sie hatte die Augen vor Angst weit aufgerissen. Jake ging behutsam auf sie zu, er hatte keine Lust, als Belohnung für seine Mühe ein Messer zwischen die Rippen zu
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