Wie eine Rose im Morgentau
Nachdem er sich erhoben hatte, legte er wieder stützend seine Hand unter ihren Ellbogen. Im Haus führte er sie gleich zu dem Badezimmer im Parterre. Obwohl sie behauptete, allein zurechtzukommen, drückte er sie sanft auf den breiten Rand der altmodischen Badewanne. In einem Schränkchen fand er einen Verbandskasten, und nachdem sie ihren Knöchel gereinigt hatte, tupfte er ihn mit einem Handtuch trocken, trug Desinfektionsmittel auf und klebte ein Pflaster auf die Wunde.
Rachel bedankte sich, nahm ihre Sandalette in die Hand und stand auf, während er wieder den Verbandskasten verstaute.
Vorsichtig griff er den Jasmin, den sie auf dem Waschbecken abgelegt hatte. Doch statt ihn ihr zu geben, steckte er ihn mit geheimnisvollem Lächeln in ihren Haarknoten. Dann legte er die Hand auf ihren Rücken und führte sie hinaus.
Pearl kam gerade aus der Küche. „Bleibst du hier, Bryn? Ich habe einen Krustenbraten im Ofen.“
Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Ja, zum Abendessen gerne. Aber danach muss ich weg.“
Jetzt erst bemerkte Pearl das Pflaster auf Rachels Zeh. „Oh, hast du dich verletzt?“
„Nur den Zeh angeschlagen.“ Nachdem Rachel bestätigt hatte, dass alles in Ordnung sei, ging sie nach oben in ihr Zimmer, um auszupacken.
Als sie wieder nach unten kam, saßen Bryn und seine Mutter in dem „kleinen Wohnzimmer“, wie es von der Familie genannt wurde, im Gegensatz zu dem viel größeren Zimmer vorne, das für besondere Anlässe vorgesehen war.
Bryn hielt einen Drink mit zerstoßenem Eis in der Hand, während Pearl an einem Sherry nippte. Sofort stand Bryn auf und bot Rachel seinen Ohrensessel an, doch sie schüttelte den Kopf und setzte sich stattdessen auf das kleine, verschnörkelte Sofa.
„Möchtest du einen Drink?“, fragte Bryn. „Ich glaube, du bist jetzt alt genug dafür.“
„Natürlich ist sie das“, sagte Pearl, und an Rachel gewandt, fügte sie verschwörerisch hinzu: „Er hält dich immer noch für ein kleines Mädchen.“
„Aber das stimmt doch nicht, Mutter“, widersprach er, warf Rachel jedoch trotzdem einen verwirrten Blick zu. „Obwohl das Pflaster mich an früher erinnert. Als Teenager warst du in deiner Abenteuerlust ja kaum zu bändigen“, zog er sie auf.
„Darüber bin ich längst hinaus“, entgegnete sie schnell. „Jetzt hätte ich gerne einen Gin Tonic.“
Wortlos ging er zu der alten Vitrine aus Kauriholz, in der sich die Minibar befand. Er mixte ihren Drink, gab eine halbe Zitronenscheibe hinein, dann überreichte er ihr das Glas.
Nachdem Rachel erklärt hatte, wie schön der Garten geworden sei, sagte Pearl: „Einmal in der Woche kommt ein Mann aus dem Dorf und hält ihn instand, und ich kümmere mich um die Blumen. Bryn hatte ja vorgeschlagen, das Anwesen zu verkaufen“, fügte sie mit empörtem Blick auf ihren Sohn hinzu, „aber ich hoffe doch, dass ich eines Tages Enkel bekomme und das Haus in der Familie bleibt. Schließlich lebten die Donovans von Anfang an hier, und der Grund gehörte schon der Familie, ehe das Haus überhaupt gebaut wurde.“
„Es ist ein wundervoller Ort für Kinder“, meinte Rachel, ohne Bryn dabei anzusehen. Seine ältere Schwester war nach England gezogen. Sie lebte dort mit einer Frau zusammen. Mit Nachwuchs war von ihrer Seite her wohl nicht zu rechnen. Und Bryn hatte es offensichtlich auch nicht eilig, den Namen der Familie fortzuführen. Mit seinen vierunddreißig Jahren hatte er ja noch genug Zeit, und mit seinem Aussehen und all dem Geld vermutlich genügend Auswahl unter den Frauen.
Der Gedanke versetzte ihr einen seltsamen Stich. Sie überlegte, ob er wohl eine Freundin hatte. Ungeduldig schüttelte sie den Kopf, um den Gedanken zu verscheuchen.
„Stimmt was nicht, Rachel?“, wollte Bryn wissen.
„Nein. Ich dachte nur … da wäre ein Nachtfalter gewesen …“
„Vielleicht irgendein Insekt, das du dir im Garten eingefangen hast.“
Er stand auf und trat zu ihr.
In diesem Moment trank Pearl ihr Glas aus und erhob sich. „Ich schau mal nach dem Abendessen.“
„Kann ich dir helfen?“, fragte Rachel, doch Bryn verstellte ihr den Weg.
„Nein, nein“, wehrte Pearl ab „Du bleibst hier. Ich komme wunderbar allein zurecht.“
Rachel spürte, dass Bryn ihre Locken berührte. „Ich kann keine Krabbeltiere entdecken“, versicherte er. „Seit wann trägst du die Haare denn so lang?“
„Schon seit Beginn des Studiums.“ Es war einfacher gewesen, sie wachsen zu lassen, statt jemanden zu
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