Wie ich Rabbinerin wurde
Gespräch eintreten, das konstruktiv und weiterbildend auf die eigene Religion zurückwirkt.
In der Geschichte der Religionen hat das rabbinische Judentum dies schon einmal mit dem Talmud getan. Es gibt keinen Grund, warum die daraus erwachsene jüdische Tradition heute nicht stärker zu Bewusstsein gebracht werden sollte, um erneut ein religiös-säkulares Selbstverständnis zu ermöglichen. BeiJuden – aber auch bei Nichtjuden. Was die gelebte und lebbare jüdische Wirklichkeit in Deutschland betrifft, kann ich mir ein jüdisches Leben vorstellen, das sich bewusst in verschiedenen Sphären mit Verbindungen dazwischen versteht und artikuliert. Es geht um drei Sphären, in denen sich – vom Judentum her – ein religiös-politisches Bewusstsein herausbildet. Das umschließt auch die offizielle Religion, die als Institution jedoch nicht allein den Ton angibt.
Die erste Sphäre sind die jüdischen Gemeinden, in denen das religiöse Judentum inhaltlich, spirituell und rituell tradiert wird. Es ist eine geschützte Sphäre von und für Juden. Schon in ihr sollten sich aber religiös-säkular eingestellte Rabbiner und Gemeindemitglieder entschieden theokratischen Vorstellungen verwahren, die das Bild des jüdisch-religiösen Lebens beispielsweise in Israel, mitunter aber auch in Deutschland prägen. In dieser ersten Sphäre müssten zugleich Übergänge aus dem religiösen Kern in die säkulare Wirklichkeit angelegt werden – Übergänge im Geist der
Schiurim
des
Egalitären Minjan
oder der säkularen
Minchas
bei
Beit Ha‘Chidush.
Die Tradition muss so gelehrt werden, dass sich ihre zentralen religiösen Inhalte auf die säkulare Wirklichkeit beziehen können. Dies wäre eine Herausforderung auch für die heutige Rabbinerausbildung.
Eine zweite Sphäre ist die säkulare Welt, in der Juden – und auch Nichtjuden – jüdisch-religiöse Inhalte auf eine säkulare Weise verwirklichen. Als Beispiel nenne ich den seit einiger Zeit bestehenden »Arbeitskreis jüdischer Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten«. Er ist ein Forum, das unter anderem die politischen Inhalte der SPD aus ihren jüdischen Ursprüngen begründet. Gemeint ist nicht nur die Tatsache, dass zu den Gründern der Sozialdemakratie viele Juden zählten, sondern die sozialdemokratische Tradition in gewissen Hinsichten eine säkulare Umsetzung des Judentums ist. Ein anderes Beispiel ist der bereits erwähnte
Verein zur Förderung angewandter jüdischer Wirtschafts- und Sozialethik
. Es müsste aber noch viel mehr solcher Foren geben. Dass es sie nicht gibt, beweist wie tief das Tabu in unserer Gesellschaft gegen das Judentum wirkt. DasTabu lehnt es ab anzuerkennen, dass wichtige politische Errungenschaften in der Geschichte Europas ursprünglich im Judentum angelegt waren, vom Christentum verdrängt wurden, jedoch in den politischen Kämpfen der abendländischen Völker wieder hervortraten, ohne aber bewusst auf die jüdische Tradition zurückgeführt zu werden.
Die dritte Sphäre ist die große nichtjüdische Welt, in der viele Nichtjuden durchaus in einer jüdischen Tradition stehen, ohne sie selbst so zu benennen. Damit meine ich sogenannte »jüdische
Gojim
«, also diejenigen, die sich in maßgeblich von Juden geprägte Traditionen gestellt haben – demokratische Traditionen, wie die bereits genannte Sozialdemokratie, oder philosophische Traditionen, der von Hermann Cohen geprägte Neo-Kantianismus, der heute gegen den Relativismus gerichtet eine neue Würdigung erfährt, oder die Philosophie der Postmoderne mit Vertretern wie Derrida, Levinas oder Judith Butler. Sie finden sich auch in einem Denken, das religiös gesehen nicht bei ganz allgemeinen Moralvorstellungen beginnt und daran die konkrete Wirklichkeit bemisst, sondern aus einem ganz im Konkreten beginnenden Denken zu Schlussfolgerungen gelangt, in denen das Physische und das Metaphysische, das Materielle und das Moralische, säkular und religiös zwei Bahnen derselben Ausrichtung sind. Solche Nichtjuden sollten sich stärker auf das Judentum berufen können und auch von einem religiös-säkularen Verständnis des Judentums her als Teil des jüdischen Lebens angesehen werden. Sie zeigen zugleich, dass Judentum nicht allein in Traditionspflege bestehen kann, es vielmehr zur Mitgestaltung der Gesellschaft immer wieder neu erschlossen werden muss.
Ich sehe somit eine Herausforderung der kommenden Jahre darin, die religiösen Inhalte des Judentums so zu erschließen, dass sie auch als
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