Wo gibt es neue Schuhe, Genossen
Das war ein Tag!
Wassja Lukanowitsch Grijenkow hatte es von Juri Leonidowitsch Amossow erfahren. Er lief nun quer durch Nowo Tschemka und teilte es jedem mit, den er traf. Allen Menschen auf der Straße, den Weibern in den Gärten, den Alten, die in den Fenstern hingen und das Leben geruhsam an sichvorbeifließen ließen, den spielenden Kindern, damit sie es ihren Eltern weitererzählen konnten. Sogar seine Abneigung gegen den Popen Wladimir Wadimowitsch überwand Wassja, lief in die kleine, etwas verrottete Kirche und sagte laut in die Stille hinein:
»Väterchen Wladimir … es gibt neue Schuhe! Ein Hoch auf die Planwirtschaft!«
»Gott sei Lob und Preis!« brüllte eine tiefe Stimme zurück. Dann trat die mächtige Gestalt des Popen durch die Tür an der Ikonastase in den Kirchenraum. Ruckartig blieb sie stehen, als sie Grijenkow erkannte, und faltete die Hände unter dem breiten, schwarzen Bart.
»Du bist es?« sagte Väterchen Wladimir. Enttäuschung und Widerwillen schwangen in seiner Stimme. »Mein Söhnchen, bei dir hätte ich es wissen sollen! Du lügst selbst in der gesegneten Luft der Kirche!«
»Es gibt neue Schuhe!« sagte Wassja und breitete die Hände aus, um zu bekräftigen, daß Gott ihn strafen möge, wenn er die Unwahrheit sage. »In zwei Tagen kommt die Lieferung nach Nowo Tschemka. Amossow hat ja schon mit der Post den Lieferschein erhalten! Die Schuhe kommen!«
Seien Sie, liebe Leser, nicht beunruhigt, wenn Sie keine Ahnung haben, wo Nowo Tschemka liegt. Man kann nicht alles wissen, und wer Nowo Tschemka nicht kennt, hat auch nicht viel versäumt in seinem Leben. Um es Ihnen einmal zu erläutern: Nowo Tschemka ist eine kleine Stadt in Sibirien, nördlich des Flusses Angara gelegen, der in den gewaltigen Jenissei fließt. Wie ein Messer durchschneidet der Jenissei das riesige Land und unterteilt die Landschaften: Westlich beginnt das sibirische Tiefbecken, östlich erhebt sich das sibirische Hochland. Und genau die Grenze – das ist der Jenissei. Wenn man nun die Angara, die bei Jenisseisk in den großen Strom mündet, aufwärts fährt, nach Norden abbiegt und alle vernünftigen Straßen verläßt bis auf eine, die mitten durch die Taiga geschlagen worden ist, dann kommt man zu einer Siedlung, in der jeder Fremde empfangen wird, als sei es Feiertag: Konduyuk. Von dort aus geht es nordöstlich weiter, wieder durch unendliche Wälder, über Hügel und durch Täler, bis nach Nowo Tschemka. Hier hört die normale Straße auf, hier ist Endstation für die Zivilisation. Was hinter Nowo Tschemka liegt ist Wald … Wald … Wald. Unberührtes Land. Noch unberührtes, jungfräuliches Land. Dreimal nämlich waren schon Geologen und Landvermesser da, landeten mit Hubschraubern vor der kleinen Stadt, quartierten sich im Gebäude der Partei ein und erzählten, irgendwo dort drüben in der Einsamkeit läge Gas im Boden. Erdgas! Das wolle man anbohren und dann in großen Rohrleitungen wegleiten; zum Wohle der sozialistischen Wirtschaft und zum Ärger der westlichen Kapitalisten. Nach einer gewissen Zeit waren die Gelehrten wieder abgeflogen, und man hatte nicht wieder von ihnen gehört.
Das war vor zwei Jahren.
Sehen Sie: Das ist Nowo Tschemka. Seien Sie also nicht beunruhigt, wenn Sie bis heute nicht wußten, daß es diese winzige Stadt in Sibirien gibt. Aber nun, da Sie sie kennen, sollten Sie teilhaben an den vielen kleinen Sorgen dieser braven Menschen dort oben am einsamsten Fleck Sibiriens.
Wassja Lukanowitsch Grijenkow, der die sensationelle Meldung durch Nowo Tschemka trug, war überall bekannt, denn jeder im Ort mußte einmal an ihm vorbei. – Er war Sargtischler. In den großen Städten ist dieses Handwerk kein Problem. Da werden die Särge maschinell hergestellt; kommen die trauernden Hinterbliebenen, fragt man bloß: »Ist der selige Genosse groß oder klein, breit oder schmal, dick oder dünn?« Und dann führt man in verschiedenen Ausfertigungen den passenden Sarg vor, von billigster Kiefer bis schwerster Eiche.
In Nowo Tschemka ist das ganz anders. Darum lebt man ja auch in Sibirien. Dort besuchte Wassja bei einem Trauerfall die jammernden und wehklagenden Verwandten selbst, holte seinen Zollstock aus der Tasche und maß den Toten. Länge, Breite, Höhe … man konnte sicher sein, daß es eine wirkliche Maßarbeit wurde. Nur mit den Ersatzteilen klappte es nicht immer, trotz der Planwirtschaft. Mal fehlten die Griffe am Sarg, mal die Schrauben für den Deckel, und wenn jemand sogar
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