Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat
für die, die nicht mit ihr umzugehen lernten, oft ein Hindernis darstellt: ein Hindernis zu leben und Werke zum Leben zu erwecken.
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Wenn das Sprechenlernen über ungelesene Bücher ein erster Schritt ist, den Forderungen der Schöpfung zu begegnen, dann liegt eine besondere Verantwortung bei allen Lehrenden, nämlich, eine Praxis zu fördern, zu deren Vermittlungsie aufgrund ihrer persönlichen Erfahrung die besten Voraussetzungen haben.
Während nun aber unsere Studenten in ihrem Studium in die Kunst des Lesens und sogar des Redens über Bücher eingeführt werden, fehlt eigenartigerweise in den Lehrprogrammen das Sprechen über ungelesene Bücher, als wäre das Postulat, dass man ein Buch gelesen haben muss, um darüber zu reden, noch nie in Frage gestellt worden. Warum wundern wir uns also über ihre Bestürzung, wenn sie in einem Examen über ein Buch befragt werden, das sie nicht »kennen«, und sich als unfähig erweisen, aus eigenen Stücken etwas dazu zu sagen?
Da der Unterricht seine Rolle der Entsakralisierung, die ihm zukäme, nur halbherzig wahrnimmt, wagen es unsere Studenten nicht,
Bücher zu erfinden.
Gelähmt vom Respekt, den man den Texten angeblich schuldig ist, und dem Verbot, sie zu ändern, gezwungen, sie auswendig zu lernen oder zumindest zu wissen, was sie »enthalten«, verlieren viele Studenten ihre innere Fähigkeit zur Distanzierung und verbieten es sich, ihre Fantasie einzusetzen, sogar in Situationen, in denen diese ihnen ausgesprochen nützlich sein könnte.
Wenn man ihnen zeigt, dass sich ein Buch mit jeder Lektüre neu erfindet, gibt man ihnen ein Mittel an die Hand, unbeschadet und sogar gestärkt aus vielen schwierigen Situationen hervorzugehen. Denn die Fähigkeit, mit Scharfsinn über Dinge zu reden, die man nicht kennt, ist weit über das Universum der Bücher hinaus von Vorteil. Wer die von vielen Schriftstellern unter Beweis gestellte Fähigkeit beweist, die Verbindung zwischen dem Diskurs und seinem Gegenstandzu durchschneiden und über sich zu reden, dem steht die gesamte Kultur offen.
Damit öffnet man unsere Jugend dem Wesentlichen, der Welt der Schöpfung. Könnte man einem Studenten ein schöneres Geschenk machen, als ihn für die Kunst der Erfindung zu sensibilisieren, das heißt der Erfindung seiner selbst? Jeder Unterricht sollte darauf abzielen, Schülern dabei zu helfen, in Bezug auf literarische Werke genug Freiheit zu entwickeln, um selbst zu Schriftstellern oder Künstlern zu werden.
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Aus all den in diesem Essay erwähnten Gründen werde ich für meinen Teil also weiterhin, ohne mich durch Kritik von meinem Weg abbringen zu lassen, beharrlich und gelassen über Bücher reden, die ich nicht gelesen habe.
Würde ich anders vorgehen und zum großen Haufen der passiven Leser stoßen, hätte ich das Gefühl, mich selbst zu verraten: Ich würde dem Milieu untreu, aus dem ich stamme, dem Weg, der mich durch viele Bücher führte, um zur eigenständigen Schöpfung zu gelangen, und der Verpflichtung, die ich heute spüre, anderen zu helfen, ihre Angst vor Bildung zu überwinden und sich von ihr frei zu machen, um endlich selbst mit dem Schreiben anzufangen.
Für die Abdruckgenehmigung der Zitate danken wir:
R OBERT M USIL ,
Der Mann ohne Eigenschaften,
in: Robert Musil, Gesammelte Werke, herausgegeben von Adolf Frisé, © 1978 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
P AUL V ALÉRY ,
Zur Literatur
. Werke, Bd. 3, herausgegeben von Jürgen Schmidt-Radefeldt, © 1989 by Insel Verlag, Frankfurt am Main
U MBERTO E CO ,
Der Name der Rose.
Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber, © 1982 by Carl Hanser Verlag, München
M ICHEL E YQUEM DE M ONTAIGNE ,
Essais.
Erste moderne Gesamtübersetzung von Hans Stilett, © 1998 by Eichborn AG, Frankfurt am Main
S IGMUND F REUD ,
Gesammelte Werke,
Band II/III. Die Traumdeutung. Über den Traum. © 1942 by Imago Publishing Co., Ltd., London. Alle Rechte vorbehalten S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
G RAHAM G REENE ,
Der dritte Mann.
Aus dem Englischen von Fritz Burger und Käthe Springer, © 1994 by Paul Zsolnay Verlag, Wien
M ARCEL P ROUST ,
Die wiedergefundene Zeit.
Werke, Bd. 7, herausgegeben von Luzius Keller. Aus dem Französischen von Eva Rechel-Mertens, © der deutschen Übersetzung 2004 by Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main
D AVID L ODGE ,
Schnitzeljagd.
Aus dem Englischen von Renate Orth-Guttmann. List, München 1985;
Ortswechsel.
Aus dem Englischen von Renate Orth-Guttmann. List, München 1986,
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