Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat
betrifft weniger das Buch als die Zeit des Gesprächs darüber.
Es geht hier nicht um die Beziehung der beiden Buchgestalten, sondern um die des »Leserpaares«. Und je weniger das Buch sie dabei stört, je vager es bleibt, umso besser können die beiden miteinander kommunizieren. Nur so haben die inneren Bücher eine Chance, wie in der ausgedehnten Zeit des Films
Und täglich grüßt das Murmeltier,
für einen kurzen Augenblick mit anderen zusammenzutreffen.
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Man sollte also bei jedem Buch, das uns der Zufall in die Hände spielt, darauf achten, es nicht durch allzu genaue Behauptungen einzuengen, sondern es vielmehr in seiner ganzen Vielstimmigkeit begrüßen, um sich keine seiner Möglichkeiten entgehen zu lassen. Und das, was das Buch bietet – Titel, Fragment, wahres oder falsches Zitat –, wie hier das Bild des Paares auf dem Schiff in Venedig, für sämtliche Beziehungen zu öffnen, die in diesem ganz bestimmten Augenblick zwischen Menschen möglich sind.
Diese Ambiguität erinnert an die Interpretation im psychoanalytischen Raum. Nur weil diese unterschiedlicheMöglichkeiten bietet, besteht eine Chance, vom Subjekt, an das sie sich richtet, verstanden zu werden, während sie bei allzu großer Eindeutigkeit als eine Form von Gewalt erlebt werden könnte. Und genau wie die analytische Interpretation ist eine Äußerung zu einem Buch stark abhängig von dem spezifischen Augenblick, in dem sie gemacht wird, und hat nur in diesem Moment überhaupt einen Sinn.
Soll er wirklich aussagekräftig sein, muss der Kommentar zu einem ungelesenen Buch das bewusste, rationale Denken ausklammern, damit eine Schwebesituation entsteht, die auch hier wieder an den Raum der Psychoanalyse denken lässt. Was wir über unsere persönliche Beziehung zum Buch sagen können, wird umso überzeugender sein, wenn wir nicht zu viel nachdenken und dem Unbewussten in uns Raum geben, das für diese privilegierte Zeit, in der die Sprache sich öffnet, die geheime Bande andeutet, die uns mit dem Buch und über diesen Weg mit uns selbst verbindet.
Diese Mehrdeutigkeit ist kein Widerspruch zu der Notwendigkeit, an die Balzac erinnert, entschieden aufzutreten und seine Ansicht über das Buch durchzusetzen. Sie ist eher seine Kehrseite. Sie macht deutlich, dass man die Besonderheiten dieses Sprachraums und die Einzigartigkeit jedes Sprechenden wahrgenommen hat. Wenn jeder von einem Deckbuch spricht, dann ist es gut, wenn man den gemeinsamen Raum nicht zerstört und den anderen wie uns selbst durch die Phantombücher, die in unseren Gesprächen herumspuken, die Möglichkeit zum Nichtlesen und Träumen zugesteht.
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Man darf also ruhig davon ausgehen, dass ich nichts erfunden habe, als ich weiter oben beschloss, die Bibliothek aus
Der Name der Rose vor
dem Feuer zu retten, Rollo Martins und die Gefährtin von Harry Lime miteinander zu verkuppeln oder den unglückseligen Helden David Lodges in den Selbstmord zu treiben. Ereignisse, die zwar nicht direkt durch die Texte belegt sind, für mich aber wie alle anderen, die ich dem Leser über die erwähnten Bücher vorgelegt habe, einer logischen Wahrscheinlichkeit entsprechen und somit wesentlich zu ihnen gehören.
Bestimmt könnte man mir vorwerfen, dass ich wie der Ästhetiker mit Goldbrille über Bücher spreche, die ich nicht gelesen habe, oder Ereignisse erzähle, die streng genommen nicht darin vorkommen. Ich hatte jedoch nicht das Gefühl, zu lügen, sondern eher jedes Mal eine Art subjektiver Wahrheit auszudrücken, indem ich so genau wie möglich beschrieb, was ich davon wahrgenommen habe, treu mir selbst gegenüber und aufmerksam für den Augenblick und die Umstände, in denen es mir angebracht schien, mich auf sie zu berufen.
1 UG ++
2 N ATSUME S ÖSEKI ,
Ich der Kater.
Aus dem Japanischen von Otto Putz, Frankfurt a. M. und Leipzig 1996, S. 7
3 Ibid., S.24
4 QB —
5 Op. cit., S. 25
6 Ibid.
7 F REDERIC H ARRISON ,
Theophano. The Crusade of the Tenth Century,
New York 1904
8 Ibid., S. 337
9 In der Weltliteratur sind die Bücher gar nicht zu zählen, in denen der Tod der Heldin eine der schönsten Stellen darstellt.
10 Als dritter Buchtyp, den ich hier einführen möchte, ist das
Phantombuch
dieser unfassbare, wandelbare Gegenstand, den wir in mündlichen oder schriftlichen Äußerungen heraufbeschwören, wenn wir von einem Buch sprechen. Es steht am Kreuzungspunkt der unterschiedlichen
Deckbücher,
welche die Leser
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