Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat
Persönlichkeit von Rang und Namen, die in ihrem ganzen Leben noch kein einziges Mal ›Davon habe ich keine Ahnung‹ gesagt hat, zustimmend zu und meinte, daß diese Stelle in der Tat nachgerade eine Perle der Prosakunst wäre. Wodurch hinwiederum
mir
klar wurde, daß dieser Mann, genauso wie ich selbst, niemals diesen Roman gelesen hatte.«[ 5 ]
Ein solcher Zynismus wirft mehrere Fragen auf; eine davon legt der Lehrer dem Ästheten auch sofort vor:
»Mein Herr mit seiner Dyspepsie bekam ganz große Augen und fragte: ›Und was hättest du getan, wenn sich herausgestellt hätte, daß dein Gegenüber diesen Roman kannte, nachdem du diesen Unsinn verzapft hattest?‹ Das klang ganz so, als hätte er überhaupt nichts dagegen einzuwenden, daß jemand beschwindelt wurde; Sorgen schien er sich lediglich darüber zu machen, daß es peinlich werden könnte, wenn sich ein Schwindel als solcher entpuppt. Der Ästhetikspezialist blieb ungerührt. ›Was für eine Frage! Dann hätte ich eben zum Beispiel gesagt, daß ich das Buch mit einem anderen verwechselt habe!‹«[ 6 ]
In der Tat verbietet uns niemand, wenn wir leichtsinnigerweise angefangen haben, über ein Buch zu reden, und unsere Worte in Zweifel gezogen werden, einen Rückzieher zu machen und zu behaupten, wir hätten uns getäuscht. Dem Ent-Lesen kommt eine so enorme Bedeutung zu, dass man sich ohne großes Risiko als Opfer einer dieser Gedächtnislücken darstellen kann, wie sie im Zusammenhang mit dem Lesen – wie dem Nichtlesen – von Büchern so häufig sind. Selbst das Buch, an das man sich noch am genauesten erinnert, ist in gewisser Weise ein Deckbuch, hinter dem sich unser inneres Buch verbirgt. Aber ist in diesem Fall das Eingeständnis seines Irrtums wirklich die beste Lösung?
∗
Sosekis Text wirft in der Tat ein interessantes logisches Problem auf. Die Lüge des Ästhetikers mit Goldbrille bezieht sich auf den Tod der Heldin, und die seines Gegenübers entlarvt sich, zumindest dem Anschein nach, in dem Moment, als er, statt die Existenz der Szene in Harrisons Buch zu bestreiten, mit der Behauptung zustimmt, sie sei eine Perle der Prosakunst. Aber wie kann der Ästhetiker wirklich wissen, ob er einen Nichtleser vor sich hat, wenn er selbst den Roman nie gelesen hat?
Der Dialog zwischen zwei Nichtlesern desselben Buches in der von Soseki beschriebenen Situation hat also die Besonderheit, dass keiner von ihnen wissen kann, ob der andere lügt. Damit die Vorstellung der Lüge in einem Gespräch über Bücher Konturen gewinnen kann, muss wenigstens eine der Parteien das Buch kennen oder zumindest eine Vorstellung davon haben.
Doch stellt sich die Situation wirklich anders dar, wenn einer der beiden Gesprächspartner oder beide das Buch »gelesen« haben? Die Anekdote Sosekis hat wie das Wahrheitsspiel von Lodge das Verdienst, die erste der beiden Ungewissheiten der virtuellen Bibliothek in Erinnerung zu rufen, die sich auf die Kompetenz der Leser bezieht. Es ist schwierig, wenn nicht unmöglich, zu wissen, inwieweit unser Gegenüber ein Buch gelesen hat. Nicht nur, weil es kaum einen Bereich gibt, in dem so viel geheuchelt wird, sondern vor allem, weil die Gesprächspartner selbst nicht Bescheid wissen und sich etwas vormachen, wenn sie glauben, auf diese Frage eine Antwort zu haben.
So ist dieser virtuelle Raum ein Tummelfeld der Täuschungen, in dem die Beteiligten, bevor sie die anderen täuschen, vor allem sich selbst täuschen, da die Erinnerungen, die sie an Bücher haben, vor allem davon bestimmt sind, was in einer bestimmten Situation gerade auf dem Spiel steht. Und es hieße, die Ungewissheit des Leseaktes zu verkennen, wollte man, wie Lodges Hochschullehrer in seinem Wahn, jene, die das Buch gelesen haben, und jene, die es nicht kennen, in zwei Lager spalten. Eine Verkennung, die sowohl die sogenannten Leser betrifft, weil sie das Vergessen, das jede Lektüre begleitet, außer Acht lassen, als auch die sogenannten Nichtleser, weil diese den Schöpfungsprozess ignorieren, den jede Begegnung mit einem Buch bedeutet.
Sich von der Vorstellung lösen, dass der andere weiß
– der andere, der genauso man selbst ist –, ist also eine Grundbedingung, um unter günstigen Voraussetzungen über Bücher zu reden, ob wir sie nun gelesen haben oder nicht. Es ist ein unsicheresWissen, das in den Gesprächen über Bücher im Spiel ist, und der andere eine beängstigende Figur unserer selbst, die wir auf unseren Gesprächspartner projizieren, dieser
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