Wie soll ich leben?
heute leben, im Zeitalter der Massenkommunikation per Internet, würde er gewiss staunen, in welchem Ausmaß dieser Austausch möglich geworden ist. Es sind nicht Dutzende oder Hunderte Besucher eines Museums, sondern Millionen Menschen, die sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln gespiegelt sehen.
Die Wirkung – zu Montaignes Zeit ebenso wie heute – kann berauschend sein. Ein Bewunderer Montaignes im 17. Jahrhundert, Étienne Tabourot des Accords, sagte, wer die Essais lese, habe das Gefühl, sie selbst geschrieben zu haben. Mehr als zweihundertfünfzig Jahre später drückte Ralph Waldo Emerson dies fast in denselben Worten aus: «Es war mir, als ob ich es in irgendeinem früheren Leben selbst geschrieben hätte.» André Gide schrieb im 20. Jahrhundert: «Ich habe ihn mir so zu eigen gemacht, dass es mir vorkommt, er sei ich selbst.» Und Stefan Zweig, der von den Nationalsozialisten ins Exil gezwungen wurde, fand kurz vor seinem Freitod in Montaigne seinen einzigen wahren Freund: «Hier ist ein Du, in dem mein Ich sich spiegelt, hier ist die Distanz aufgehoben, die Zeit von Zeiten trennt. Nicht ein Buch ist mit mir, nicht Literatur, nicht Philosophie, sondern ein Mensch, dem ich Bruder bin. […] Nehme ich die ‹Essais› zur Hand, so verschwindet im halbdunklen Raum das bedruckte Papier. […] Vierhundert Jahre sind verweht wie Rauch.»
Begeisterte Kunden von Amazon urteilen ähnlich. Einer nennt die Essais «kein Buch, sondern einen Begleiter durchs Leben». Der Nächste prophezeit, dieses Buch werde «der beste Freund werden, den du jemals hattest». Und ein Leser, der das Buch auf seinem Nachttisch liegen hat, bedauert, dass es (in der vollständigen Ausgabe) «zu groß ist, um es mit sich herumzutragen». «Das ist Lesestoff für ein ganzes Leben», sagt ein anderer. «Dieser dicke fette Klassiker liest sich, als wäre er erst gestern geschrieben worden. Wenn Montaigne heute leben würde, wäre er längst in der Zeitschrift Hello! gelandet.»
All das ist deshalb möglich, weil die Essais keine tiefere «Bedeutung» haben, auf nichts hinaus- und nichts beweisen wollen. Sie belassen dem Leser seine Freiheit. Montaigne lässt seine Gedanken aus sich herausströmen, und es kümmert ihn nicht, wenn er auf einer Seite etwas sagt und zwei Seiten später oder schon im nächsten Satz genau das Gegenteil behauptet. Sein Motto hätte er Walt Whitman entnehmen können:
Widerspreche ich mir selber?
Dann widerspreche ich mir eben,
(Ich bin groß, ich enthalte Vielheiten).
Alle paar Sätze betrachtet er die Dinge aus einer anderen Perspektive und ändert die Blickrichtung. Er folgt seinen irrationalen und träumerischen Gedanken und schreibt sie auf: «So vermag ich den Gegenstand meiner Darstellung nicht festzuhalten, denn auch er wankt und schwankt in natürlicher Trunkenheit einher.» Dem Leser steht es frei, ihm zu folgen oder ihn allein weitermäandern zu lassen. Früher oder später werden sich ihre Wege erneut kreuzen.
Mit dieser Art zu schreiben begründete Montaigne ein ganz neues Genre – und erfand dafür sogar einen neuen Begriff: Essais . Essayer bedeutet im Französischen «versuchen». Etwas zu versuchen heißt, es zu testen, es auszuprobieren. Ein Montaigne-Interpret des 17. Jahrhunderts verglich die Essais mit dem Abfeuern einer Pistole, um zu sehen, wie gut sie trifft, oder mit dem Aufsitzen auf einem Pferd, um zu sehen, wie es sich reiten lässt. Montaigne jedenfalls entdeckte, dass die Pistole wie wild durch die Gegend feuerte und das Pferd durchging, aber dasstörte ihn nicht weiter. Er freute sich, dass sich sein Werk so unvorhersehbar entwickelte.
Eine solche literarische Revolution im Alleingang hatte er wahrscheinlich gar nicht geplant, doch im Nachhinein war ihm sehr wohl bewusst, was er zu Papier gebracht hatte: «Mein Buch ist auf der Welt das einzige seiner Art», schrieb er, «geplant planlos, gleichsam Wildwuchs.» Jedenfalls ohne ein festes Konzept. Die Essais sind nicht in geordneter Folge vom Anfang bis zum Ende durchgeschrieben, sondern zwischen 1572 und 1592 Schicht um Schicht gewachsen wie ein Korallenriff. Das Einzige, was dieses Wachstum zum Stillstand brachte, war Montaignes Tod.
Andererseits könnte man sagen, dass sein Projekt bis heute nicht an ein Ende gekommen ist. Es wächst immer weiter, nicht durch unentwegtes Fortschreiben, sondern durch unentwegte Lektüre. Angefangen mit dem ersten Nachbarn oder Freund im 16. Jahrhundert, der Montaignes Entwurf auf dessen
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