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Wildes Herz

Wildes Herz

Titel: Wildes Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonie Britt Harper
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verlor, war das Schicksal seines neunjährigen Bruders und seiner Mutter besiegelt.
    Niemand hatte Sarah McDermott deswegen einen Vorwurf gemacht. Sie hatte getan, was sie noch hatte tun können – ja, tun müssen, damit wenigstens einige von ihrer Familie die Hungersnot überlebten. Andere Mütter hatten dieselbe schreckliche Wahl treffen müssen, und nicht einmal der gestrenge Father Murphy hatte darüber auch nur ein Wort in seinen Sonntagspredigten verloren. Was hätte er auch sagen sollen? Dass in einer Familie wie die McDermotts besser alle starben als zu entscheiden, wen es zuerst treffen und wer bei Kräften bleiben sollte?
    Éanna fragte sich, ob ihre Mutter genauso gehandelt hätte, wenn es noch ein Baby gegeben hätte. Sie wusste es nicht. Ihr Vater hatte auch in der schlimmsten Zeit eisern darauf bestanden, dass alle den gleichen Anteil bekamen. Er hatte keinen Unterschied gemacht – wie entsetzlich wenig es auch gewesen war, was jeder zugeteilt bekam. Oft hatte er selbst verzichtet, obwohl er für die schwere Arbeit alle Kräfte gebraucht hätte.
    Als sie sich den McDermotts und den Crowleys näherten, sah Éanna erleichtert, wie sich Catherine entschlossen die Tränen aus dem Gesicht wischte.
    Michael McDermott empfing sie mit bitterer Miene. Sie erfuhren, dass die Familien beschlossen hatten, zusammen hinunter zur Küste zu ziehen, nach Galway. In der großen Hafenstadt an der Mündung des Corrib hofften sie auf Arbeit. Und notfalls wollten sie sich vor einem dieser grauenvollen Arbeitshäuser in die langen Schlangen jener einreihen, die dort um Aufnahme bettelten.
    Als Michael den Sullivans anbot, sich ihnen anzuschließen, richtete Catherine sich auf und schüttelte entschieden den Kopf. »Eher sterbe ich auf der Straße, als ins Armenhaus zu gehen!«, erklärte sie.
    Das erste Mal an diesem Tag spürte Éanna so etwas wie Zuversicht. Da war sie wieder – die alte Stärke ihrer Mutter, die Sicherheit, die Éanna immer an ihr bewundert hatte. Es tat gut zu hören, dass sie sich offenbar doch noch einen Rest von Stolz und Selbstachtung bewahrt hatte. Und Éanna spürte, wie sich ein bisschen davon auf sie selbst übertrug.
    An der Gabelung der Landstraße verabschiedeten sie sich von den Nachbarsfamilien. Ein letzter müder Segenswunsch, und dann bogen die McDermotts und Crowleys nach links ab, wo es über die Dörfer Claregalway und Ballybrit nach Galway im Westen ging.
    Éanna schlug mit ihrer Mutter die östliche Richtung ein. Hinter ihnen – zwischen den herbstlichen Feldern und den grünen Hügelketten – ragte die Ruine ihrer Kate in den Himmel.
    Doch keiner von ihnen blickte sich nach ihrem ehemaligen Zuhause um.

Zweites Kapitel
    Die Straße der Sterne, so nannten sie die Bauern mit bitterem Hohn. Sie nahm die bettelarme Landbevölkerung auf, wenn sie von ihren Pachthöfen vertrieben wurden.
    Was es bedeutete, auf der Straße der Sterne unterwegs zu sein, das sollten Éanna und ihre Mutter nur allzu bald erfahren. Es vergingen keine fünf Minuten, ohne dass ihnen Eselskarren und Fuhrwerke begegneten, auf denen Leichen zur Beerdigung lagen. Gefolgt von ihren Angehörigen, nicht selten aber auch nur von einem einzigen überlebenden Mitglied der Familie.
    Éanna dachte daran, wie glücklich sich solch eine Familie noch schätzen konnte. Die Toten lagen wenigstens in einem Brettersarg, auch wenn er noch so billig und schäbig sein mochte. Und die Hinterbliebenen hatten immerhin so viel Geld, um den Leichenbestatter bezahlen und ihre Verstorbenen auf einem Friedhof in geweihter Erde beerdigen zu können.
    Die Mehrzahl der Opfer, die der jahrelange Hunger schon gefordert hatte, lag entlang der Straßen irgendwo verscharrt. Oft hatte die Kraft nur noch für ein paar Steine gereicht, mit denen man den Leichnam bedeckt hatte. Aber wenigstens schützte das die Verstorbenen vor streunenden Hunden und anderem Getier, das noch nicht in den Fallen der Hungernden sein Leben gelassen hatte.
    Doch auf den Überlandstraßen stieß man auch auf Tote, die keinerlei noch so armseliges Begräbnis erhalten hatten. Sie lagen in den Gräben und vor den niedrigen grauen Steinmauern, die Felder und Gehöfte eingrenzten. Sie ruhten dort, wo der Tod sie ereilt und ihr Leiden beendet hatte. Kaum eine der zerlumpten, zu Skeletten abgemagerten Gestalten, die sich mit leerem Blick über die Straße schleppten, schenkte ihnen Beachtung. Es waren ihrer einfach zu viele, um von ihrem Anblick nicht längst abgestumpft zu

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