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Wildes Herz

Wildes Herz

Titel: Wildes Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonie Britt Harper
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es aus! Als würden sich dort milchig blaue Klauenhände auf die oberen Reihen der kräftigen Kartoffelpflanzen legen, Klauenhände, die lang und immer länger wurden! Aber zum Weglaufen war es nun zu spät. Das würde die Großmutter nicht dulden. Dem Unabänderlichen im Leben müsse man immer mutig ins Auge blicken und ihm nie den Rücken zukehren, war einer ihrer gestrengen Regeln. Wer sich nicht daran hielt, dem sitze das Unheil noch viel boshafter im Nacken als demjenigen, der sich ihm furchtlos stelle.
    »Es ist nicht nur Nebel, Kind«, raunte Granny Kate. «Das, was du da siehst, ist Fear Liath, der Graue Mann!«
    Éanna stellten sich die Nackenhaare auf. Sofort schob sie ihre Hände in die weiten Ärmel ihres Kleides und verschränkte die Arme vor der Brust, als könnte sie das schützen. Fear Liath, der Graue Mann, war das gefürchteteste aller Geisterwesen, die in den irischen Mooren, Seen und Bergen hausten und sich nächtens am Himmel bekämpften. Nicht wenige Iren stellten an den Orten, die sie für von Geistern bewohnt glaubten, sogar Holzschalen mit Milch und anderer Nahrung als Opfergaben auf, um sie freundlich zu stimmen.
    »Er hat die anderen Geister vertrieben, weil er sie für sich allein will«, fuhr Granny Kate mit unheilvoller Stimme fort. »Und jetzt kommt er, um sie sich zu holen!«
    Éanna brauchte nicht zu fragen, was Kate mit »sie« meinte. Es waren immer die Kartoffeln, um die sich Geisterwesen wie der Graue Mann mit anderen Fairies stritten. Sie wollten den Iren die Erdfrucht rauben und sie dadurch ins Elend stürzen. Dabei waren die Kartoffeln für die bitterarme Landbevölkerung Irlands das Einzige, was sie vor dem Verhungern bewahrte. Die Sommerzeit hieß nicht nur bei den Sullivans, sondern auch bei fast allen anderen Bauern nur »Sommerhunger«. Denn der knappe Vorrat an Haferflocken, den sie spätestens im Mai bei den Kaufleuten für sündhaft viel Geld kaufen mussten, reichte nie bis zur ersten Kartoffelernte im späten August. Er musste arg gestreckt werden. Dann gab es tagaus, tagein nur wässrigen Porridge und dünne Kohlsuppen, selten einmal einen Hering. An Eierspeisen oder gar Fleisch war nicht zu denken. Und so wartete jeder voller Ungeduld darauf, dass die Felder endlich reif wurden und ihren Segen freigaben. Und nur wenn diese und die zweite Ernte im Oktober gut ausfielen, konnte eine Familie ohne allzu große Angst dem langen Winter entgegensehen. Es waren diese Kartoffeln, die ihr Überleben sicherten, nach denen der unersättliche Graue Mann jetzt seine Hände ausstreckte!
    »Vielleicht irrst du dich diesmal, Granny«, sagte Éanna und hatte Mühe, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. »Vielleicht ist das dort wirklich nur gewöhnlicher Nebel!«
    Kate Donnegan schüttelte den Kopf. »Oh nein, es ist der Graue Mann! Sieh nur, wie er über das Feld fährt. Er will alles. Jede Pflanze, die er berührt, gehört ihm. Und er wird nicht eine auslassen.«
    »Du machst mir Angst«, flüsterte Éanna. Der Nebel wurde dichter und wallte nun von allen Seiten den Hang hinunter. Immer mehr Kartoffelreihen verschwanden unter seiner Decke. Dabei wogte das milchige Weiß auf und ab, als würde Fear Liath alle Kartoffeln aus dem Boden reißen und sie mit maßloser Gefräßigkeit verschlingen. Nicht mehr lange, und die ersten Schlieren würden sie erreicht haben.
    »Lass uns zurück ins Haus gehen.«
    Granny Kate verharrte noch einen langen Moment am Fuß des Kartoffelfeldes. Sie schien den wabernden Nebelschwaden – nein, dem Grauen Mann die Stirn bieten zu wollen. Erst als der Husten sie wieder überfiel, drehte sie sich um.
    »Er nimmt uns alles. Der Winter wird bitter, Kind«, prophezeite sie. Ihre Stimme klang dabei so ruhig, als hätte sie eine so gewöhnliche und unumstößliche Tatsache wie das Fallen der Blätter im Herbst ausgesprochen. »Du wirst tapfer sein müssen, Éanna. Du bist jetzt schon dreizehn und die Älteste. Du wirst deinen Geschwistern ein Vorbild sein müssen. Denn wir werden hungern, Éanna. Hungern wie nie zuvor.«
    Am nächsten Morgen bedeckte ein dicker bläulicher Nebel das Land, so weit das Auge reichte. Gegen Mittag verdunkelte sich auch noch die Sonne. Sie schien ihr Antlitz verhüllen zu wollen, um das Unheil nicht länger anschauen zu müssen. Der Himmel trug eine bedrohliche Farbe, wie sie selbst die Ältesten nie zuvor gesehen hatten.
    Drei schrecklich lange Tage hielt sich der Nebel. Seltsamerweise konnte man in der beklemmenden Stille

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