Wildes Herz
Prolog
Nie sollte Éanna Sullivan jene verhängnisvolle Sommernacht vergessen, in der alles begann und das entsetzliche Unheil lautlos wie ein Dieb in der Nacht seinen Anfang nahm. Bis ans Ende ihrer Tage verfolgte sie der heimtückische Nebel und die Prophezeiung von Granny Kate.
In jener Nacht erwachte Éanna Sullivan aus den wirren Träumen ihres Schlafs, weil etwas über ihr Gesicht strich. Es fühlte sich wie eine schwielig raue Hand an, die im Vorübergehen ihre Wange streifte. Sie schlug die Augen auf. Das letzte Stück Torf glimmte noch im Feuer. Der schwache Schein vermochte nicht viel gegen die nächtliche Dunkelheit in dem einzigen Raum der Bauernkate auszurichten. Er reichte gerade noch aus, um die Umrisse ihrer Eltern und vier Geschwister erkennen zu können. Wie schutzsuchend lagen sie dicht gedrängt auf dem harten, festgestampften Erdboden. Doch zwischen ihrer Mutter und ihrer Schwester Mary klaffte ein Spalt, die dünne Strohmatte war leer. Dort hatte Granny Kate Donnegan, die Großmutter, ihren angestammten Schlafplatz auf dem Lehmboden.
Ein leises Knarren kam von der Tür. Éanna drehte ihren Kopf zur anderen Seite und erhaschte einen Blick auf ihre Großmutter, die in diesem Moment durch den Türspalt hinaus in die Nacht schlüpfte. Jetzt wusste sie, was sie aufgeweckt hatte. Es musste ein Zipfel von Granny Kates Umhang gewesen sein, als die Großmutter an ihr vorbei zur Tür geschlichen war. Doch was trieb Kate bloß zu dieser nächtlichen Stunde aus dem Haus? Nach den vielen Regentagen der vergangenen Wochen saß ein hartnäckiger Husten in ihrer Brust und wollte einfach nicht weichen.
Éanna überlegte nicht lange. Da sie nun schon mal wach war, konnte sie auch ebenso gut aufstehen und ihrer Granny nach draußen folgen. Zu groß war ihre Neugier, was Kate bewogen haben mochte, sich der feuchten Nachtkühle auszusetzen.
Éanna fand ihre Großmutter hinter der Lehmhütte. Ihre hagere, nach vorn gekrümmte Gestalt stand vor ihrem Kartoffelfeld, das sich über den sanft ansteigenden Hang eines Hügels erstreckte. Oben auf der Kuppe hoben sich Bäume und Strauchwerk als schwarze Silhouetten vor dem bewölkten Nachthimmel ab. Nur wenig Mondlicht fiel durch einige Löcher in der Wolkendecke und warf hier und da helle Flecken auf das Land.
Reglos stand Kate am Rand des Kartoffelackers, der bald reif zur ersten Ernte sein würde, und wandte nicht den Blick vom Hügel. Sie schaute sich nicht einmal um, als Éanna sich in ihrem Rücken mit einem herzhaften Gähnen bemerkbar machte.
Éanna trat neben sie, um zu sehen, was ihre Großmutter so aufmerksam zur Anhöhe blicken ließ. Sie konnte jedoch nichts Bemerkenswertes entdecken. Nur einige zerfranste Nebelschleier trieben dort oben heran und wogten wie milchiger Schaum über die niedrigen Ginsterbüsche zwischen den beiden Weißdornbäumen.
»Warum bist du aufgestanden, Granny? Konntest du nicht schlafen, oder hat dich hier irgendetwas geweckt? Treibt sich jemand da oben herum?« Éanna wusste nicht genau, weshalb sie ihre Stimme senkte, aber sie hatte das Gefühl, dass es besser sei, leise zu sprechen.
Granny Kate gab ein trockenes Husten von sich und zog den alten, verschlissenen Umhang fester um ihre hageren Schultern.
»Da, sieh nur!«, raunte sie heiser, und ihre knochige Hand deutete den Hügel hinauf. »Da kommt er! Er hat den Streit für sich entschieden.«
Éanna war beklommen zumute. Granny Kate sah manchmal Gesichter und Dinge, die anderen verborgen blieben. Sie wusste Geschichten über Geisterwesen zu erzählen, die einem eisige Schauer durch den Körper jagten und Gänsehaut auf die Arme trieben.
Die Leute in ihrem Bezirk von Galway sagten, Kate Donnegan habe das dritte Auge. So mancher mied sie deshalb und schlug lieber einen großen Bogen, als ihr über den Weg zu laufen. Sogar in der Dorfkirche blieb der Platz neben ihr häufig leer.
»Meinst du den Nebel?«, wisperte Éanna und wünschte sich plötzlich, sie wäre im Haus beim Feuer liegen geblieben. Denn nun hegte sie keinen Zweifel mehr, dass ihre Großmutter etwas sah, das ihr, Éanna, sicherlich Angst machen würde, wenn sie davon erfuhr.
Auf einmal erschienen ihr die Nebelschleier unheimlich. Hatten sie nicht einen beunruhigend ungewöhnlichen Stich ins Blauschwarze? Und konnten das nicht Geisterarme mit spinnenlangen Fingern an ihren Enden sein, die da links und rechts lautlos hinter dem Dickicht hervorglitten und sich ihrem Kartoffelfeld entgegenstreckten? Ja, so sah
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