Wildhexe - Die Feuerprobe
war. Ängstlich. In meinem Hals steckte ein harter, kantiger Kloß, so als hätte ich einen Stein verschluckt.
Es gab niemanden, der auf die Uhr geschaut hätte oder irgendetwas in dieser Art, aber trotzdem konnte man eine gewisse Ungeduld unter den sieben Rabenmüttern beobachten, die zwischen den Bäumen warteten. Tante Isa stand so dicht hinter mir, dass ich die Wärme ihres Körpers spüren konnte, und ein bisschen weiter weg standen Herr Malkin, Frau Pomeranze, Meister Millaconda und Shanaia. Sie waren natürlich ebenfalls eine Art Zeugen für das, was Chimära getan hatte, aber ich glaube, sie waren vor allem da, um zu demonstrieren, dass ich nicht alleine war. Tante Isa hielt die Tasche mit dem Halseisen in der Hand. Kahla durfte offenbar nicht dabei sein, weil sie noch keine vollwertige Wildhexe war. Sie war zusammen mit Stjerne im Gästezimmer geblieben. Die Glückliche.
Dann kam Chimära.
Sie war riesig. Oder genauer gesagt, ihre Flügel waren riesig. Als sie sie ausbreitete, schienen sie fast von der einen Seite des Baumkreises zur anderen zu reichen.
»Lasst uns keine Zeit mehr verschwenden«, sagte sie, als wären wir zu spät gekommen und nicht sie. »Ihr alle kennt das alte Gesetz. Ich verlange, dass diese kleine Lügnerin wegen Ehrverletzung und falscher Beschuldigungen meiner Gnade übergeben wird.« Sie zeigte mit einer langen goldenen Kralle in meine Richtung.
Was? Meiner Gnade übergeben wird?
»Was bedeutet das?«, flüsterte ich Tante Isa zu. »Darf sie das?«
Tante Isa zögerte. »Ich weiß es nicht«, sagte sie schließlich. »Heutzutage werden Prozesse normalerweise nicht mehr so geführt, aber …«
Ich konnte sehen, dass die Rabenmütter die Köpfe zusammensteckten. Wir waren zu weit weg, um zu hören, was sie murmelten, aber dann richteten sie sich auf, und Thuja trat einen Schritt nach vorne.
»Von welchem Gesetz sprichst du, Chimära?«
Chimära hielt ein altes Buch hoch.
»Zahn und Klaue«, sagte sie. »Das älteste von allen. Bravita Blutskind hat es vor vierhundert Jahren aufgeschrieben, aber es hat schon zu allen Zeiten existiert. Und es gilt immer noch.«
Chimära warf Thuja das Buch vor die Füße, aber die blinde Rabenmutter unternahm keinerlei Versuch, es aufzuheben.
»Erst musst du deine Behauptung beweisen«, sagte sie.
Ich drehte mich zu Tante Isa um.
»Was meint sie damit? Gilt es nun oder nicht, dieses Zahn-und-Klaue-Dings?«
»Damit hatte ich nicht gerechnet«, sagte Tante Isa, und ihre Lippen waren zwei dünne graue Striche. »Es gibt doch heutzutage verdammt noch mal niemanden mehr, der Bravita Blutskind mit ins Gericht schleppt.«
»Aber was bedeutet das? Heißt das, wenn ich verliere, bekommt sie mich?«
»In den alten Zeiten war es eine sehr ernste Angelegenheit, wenn man vor dem Rat angeklagt wurde. Für viele Verbrechen gab es die Todesstrafe, es war also wichtig, dass niemand nur zum Spaß oder mit falschen Anschuldigungen eine Klage vorbrachte. Deshalb gehörte der, dessen Vorwürfe sich als falsch herausstellten, dem Gewinner des Prozesses.«
»Wie lange?«
»Das weiß ich nicht. Bis hin zu lebenslänglich, denke ich.«
Plötzlich hatte ich das Gefühl, als wäre mein Körper zu eng geworden, als wäre in meiner Haut nicht mehr genug Platz für mich und meine Angst. Ich wollte Chimära nicht gehören. Nicht mal für eine Stunde! Und schon gar nicht für den Rest meines Lebens!
Tante Isa legte mir beruhigend eine Hand auf die Schulter.
»Das gilt ja nur, wenn wir nicht gewinnen. Und wir haben gute Argumente.«
Sie hatte leicht reden. Sie musste ja auch nicht Chimäras Sklavin sein, wenn wir verloren.
Ich schaute zu Chimära. Sie hatte ihre Flügel angelegt. Sie sahen zwar immer noch riesengroß aus, aber nicht mehr ganz so gewaltig wie in dem Moment, als sie in den Kreis gesegelt war. Ihr Gesicht war vollkommen ausdruckslos, aber sie streckte eine Hand – oder besser gesagt, eine Klaue – aus und krümmte die Finger, als würde sie sich schon darauf freuen, genau diese Klaue um mich zu schließen.
»Lasst uns die Anklage hören«, sagte Thuja.
Ich fühlte mich so furchtbar winzig. Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll – aber manchmal kommt es mir so vor, als wären alle anderen mindestens einen Meter größer und natürlich hundertmal klüger, mutiger und hübscher als ich. Ich bin wirklich nicht besonders groß, aber darum geht es gar nicht. Manchmal bin ich einfach innerlich klein. Und die anderen Menschen sind
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