Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Wildhexe - Die Feuerprobe

Titel: Wildhexe - Die Feuerprobe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
Vom Netzwerk:
Chimära mich durch neblige Straßen und Kellergänge hetzte und sich jedes Mal wenn ich dachte, ich wäre ihr entkommen, wie ein Sperber auf mich herunterstürzte.
    Mitten in der Nacht bemerkte ich plötzlich einen pelzigen Körper neben mir, eine schwere, schnurrende Wärme. Mein Kater. Mein schwarzer Kater.
    Erst da hörten die Albträume auf.

15  ZÄHNE UND KLAUEN
     
     
    Clara. Clara, wach auf. Sie ist schon da.«
    Wer? Was? Mit schwerfälligen Zügen tauchte ich langsam vom Grund eines tiefen schwarzen Sees aus Schlaf auf. Würde ich etwa schon wieder zu spät in die Schule kommen?
    Aber es war natürlich nicht Mama, die neben mir stand und mir über die Schulter streichelte, um mich aufzuwecken. Es war Tante Isa. Und ich lag auch nicht in meinem eigenen, weichen Bett zu Hause in meinem Zimmer, sondern im Gästebett des Rabenkessels.
    Endlich ging mir auf, wen sie meinte.
    »Chimära? Ist sie hier?«
    »Ja. Und sie verlangt, dass der Prozess innerhalb der nächsten Stunde eröffnet wird.«
    Mein Kopf war schwer wie Blei, und mein Knie tat weh.
    »Darf sie das denn bestimmen?«
    »Ja. Das ist ihr Recht, weil wir es waren, die die Klage gegen sie vor den Rat gebracht haben.«
    Nach dem, was Thuja gesagt hatte, war ich davon ausgegangen, mindestens drei Tage Ruhe zu haben. Drei Tage, um zu mir zu kommen, drei Tage, um mich vorzubereiten und herauszufinden, was mir bevorstand und was es bedeutete, vor dem Rat der Rabenmütter auszusagen. Ich hoffe wirklich, sie schafft es , hatte Frau Pomeranze gesagt, als sie dachte, ich würde sie nicht hören. Ich wusste über Prozesse nicht viel mehr als das, was ich aus Fernsehserien kannte, und ich hatte den vagen Verdacht, dass das hier nicht ganz dasselbe werden würde.
    Und das wurde es auch nicht. Zunächst gab es keinen Gerichtssaal – genau genommen gab es überhaupt keinen Saal. Das Ganze fand mitten im Rabenkessel statt, im Kreis der schneebedeckten Bäume. Es gab auch keine smarten Anwälte, die aufspringen und »Einspruch!« rufen konnten, wenn jemand zu hart mit den Zeugen umsprang, und dort, wo man normalerweise einen Richter erwarten würde, standen stattdessen sieben Gestalten. Sie waren ganz in Schwarz gekleidet und trugen schwarze Kopftücher – sowohl die Frauen, unter ihnen Thuja, als auch die beiden Männer. Die meisten von ihnen hatten auf dem Arm oder auf der Schulter einen Raben sitzen, und auch in den Bäumen saßen noch immer mehrere Hundert Vögel – Raben, Saatkrähen, Nebelkrähen und Dohlen.
    »Das sind die Rabenmütter«, flüsterte mir Tante Isa zu, die dicht hinter mir stand.
    »Aber … ein paar davon sind doch Männer …?«
    »Ja, heutzutage gibt es eine gewisse Gleichberechtigung.«
    »Und manche von ihnen sind blind?«
    »Ja. In den alten Zeiten musste man den Raben seine Augen überlassen, um eine Rabenmutter zu werden. Heute handhaben wir das glücklicherweise nicht mehr so, aber viele, die von Natur aus blind sind, fühlen sich zu dieser Aufgabe hingezogen, was man ja gut verstehen kann. Du hast sicher bemerkt, dass Thujas Rabe für sie sieht?«
    Ich nickte.
    »Aber … wie hat man das früher gemacht? Ich meine, wie haben sie denn den Raben ihre Augen überlassen?«
    »Ich fürchte, das ist ganz buchstäblich zu verstehen. Man entfernte den Augapfel und gab ihn dem Raben zu fressen. Heutzutage wird das nur noch rein symbolisch gemacht – man mischt ein bisschen Blut und etwas Tränenflüssigkeit in eine Fettkugel, die der Rabe dann verzehrt.«
    Igitt. Ich hätte nicht gewollt, dass die Raben irgendetwas von mir fraßen, nicht mal dann, wenn es nur ein bisschen Blut oder so gewesen wäre.
    Dann fiel mir wieder ein, dass der Kater bei unserer ersten Begegnung ja auch mein Blut aufgeleckt hatte. Ich konnte zwar nicht durch seine Augen sehen, so wie Thuja bei ihrem Raben, aber vielleicht war das die Erklärung, warum ich ihn hören konnte?
     
    Ich konnte Chimära nirgends entdecken. Die Stunde war um und genau jetzt sollte die Verhandlung beginnen. Die Sonne war schon aufgegangen und stand tief hinter den Bäumen. Über dem Grund des Rabenkessels hing grauweißer Nebel. Es war so kalt, dass ich meinen eigenen Atem sehen konnte, aber wenigstens schneite es nicht mehr.
    Der Kater, der mich die ganze Nacht warm gehalten hatte, war wieder verschwunden. Wie mir schien, konnte er den Rabenkessel mit all seinen schwarzen Vögeln nicht leiden. Das beunruhigte mich, oder besser gesagt, es machte mich noch unruhiger, als ich sowieso schon

Weitere Kostenlose Bücher