Wildnis: Thriller - Band 3 der Trilogie
Reihe, anmutig, doch so ungenau, dass es selbst Jan auffiel. Er fand sympathisch, wie sie sich in ihrer Schludrigkeit treu blieb, und fragte sich, wieso sie ausgerechnet Profitänzerin werden wollte. Sie war kleiner als die anderen Mädchen, trug als Einzige kurze Haare und schien während der Vorstellung damit zu kämpfen, den vorgeschriebenen, maskenhaften Gesichtsausdruck beizubehalten. Jan konnte sich vorstellen, was für eine Herausforderung das war, so munter, wie ihr Blick sonst umhersprang. Einmal hatte er sich danach erkundigt, wieso sie ausgerechnet Ballett studierte, und sie hatte ihm geantwortet, dass das die einzige Chance sei, eine Prinzessin zu werden, ihr Vater sei nämlich kein König und das sei gut so für die Welt. Wahrscheinlich wusste sie es selbst nicht recht.
Jan freute sich, dass Anna mit Chris Freundschaft geschlossen hatte, und fragte sich, welche Unterschiede die beiden zusammenhielten. Für Anna fiel es ihm leicht, Erklärungen zu finden: Chris lenkte sie ab, lockerte sie auf und schien dabei keine Schwierigkeiten zu haben, Annas Dominanz und Eigensinn zu tolerieren. Bei Chris vermutete Jan, dass sie es selbst wieder einmal nicht wusste. Sie interessierte sich für alle und jeden, nur über ihr eigenes Leben schien sie sich wenig Gedanken zu machen.
Ganz anders lagen die Dinge bei Rainer. Jan hatte gleich erkannt, weswegen sich dieser herablassende Schnösel um Anna bemühte. Allein wie er seine Haare frisierte – die vom Wet Gel glänzenden Strähnen wie ein Kamm über das linke Auge gezogen –, brachte Jan dazu, sich auszumalen, dass er Rainer in seinem schwuchteligen Kostüm unter dem Beifall der Zuschauer vermöbelte. Leider war Rainer nicht schwul, sonst hätte er seine Pfoten von Anna gelassen. Auch seine Unart, ihr bei jeder Begrüßung und Verabschiedung Küsschen zu geben und sie im Gespräch ständig an Händen und Armen zu berühren, durfte Jan nicht kritisieren. Das sei unter Tänzern üblich, sagte Anna. Er solle ihr vertrauen.
Er vertraute ihr und wusste, sie liebte ihn, auch wenn sie die Tage an der Ballettschule und die Nächte auf der Schlafcouch im Wohnzimmer verbrachte.
Endlich kamen die Sommerferien, und auch wenn Anna einige Workshops belegte, um ihren vermeintlichen Trainingsrückstand aufzuholen, nahm sie sich immerhin zwei Wochen frei. Jan dachte an ein günstiges Hotel, in dem sie ein Doppelbett teilen müssten, doch dann sagte er sich, dass sie eigentlich gar nicht zu verreisen brauchten: Sie hatten wenig Geld und in Berlin viel zu entdecken. Er wünschte sich einfach, mit Anna Zeit zu verbringen, ohne Abenteuer.
Anna reagierte erleichtert. Während der Urlaubstage übte sie morgens zwei Stunden, ehe Jan aufstand, dann gehörte der Tag ihren Unternehmungen. Sie stöberten über den Bücherflohmarkt am Boxhagener Platz und fanden auf dem Rückweg alte Bretter, die jemand vor die Tür gestellt hatte. Damit bastelten sie sich ein Regal für das letzte Wandstück im Wohnzimmer, das noch frei geblieben war. Sie schlenderten an der East Side Gallery die Spree entlang, entdeckten, dass in einer Fabrik Roboter aufgebaut wurden, die am Abend musizieren sollten, blieben in der Gegend, aßen auf einem stillgelegten Lastkahn zu Abend und sahen sich die funkensprühende Roboter-Show an. An einem windigen Morgen fuhren sie zum Tierpark, um den Wolfsjungen von der Wildnis Alaskas zu erzählen, und an einem regnerischen Nachmittag gaben sie sich als Kaufinteressenten aus, um die Wohnungen in den heruntergekommenen DDR-Prunkbauten der Karl-Marx-Allee zu besichtigen, eine Schummelei, die Jan einen – zumindest nachträglich angenehmen – Nervenkitzel bereitete.
Anna nahm ihre Umgebung wieder mit Begeisterung wahr und äußerte Wünsche, statt ihre Alltagsroutine runterzuspulen und Jan an Wochenenden lustlos zu begleiten. Die Zeit mit ihr war plötzlich wieder überraschender, voller und schneller. Der Kontrast führte Jan vor Augen, wie unerbittlich sie sonst mit sich umging, wie zielgerichtet und angespannt sie in jedem Augenblick war.
Nach der ersten Woche hatte Anna einen ihrer fürchterlichen Albträume, an die sie sich danach nie erinnern konnte. Sie stöhnte und schlug um sich, bis Jan zu ihr kam und sie wachrüttelte. Am nächsten Morgen klagte sie über das lähmende Kopfweh, das sie manchmal nach solchen Träumen heimsuchte, und am Abend erklärte sie Jan am Rande der Tränen, sie müsse wieder mit dem Ballett beginnen, sie könne die Ferien nicht länger
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