Wildnis: Thriller - Band 3 der Trilogie
hatte kein Fieber. Nur ihr Puls raste, sonst waren keine Symptome festzustellen. Sie fuhren nach Hause. Anna war anhänglich, wollte in den Arm genommen werden und sich auf ihrer Ausklapp-Couch vorlesen lassen. Dabei schlief sie ein. Er legte das Buch zur Seite und wagte es nicht, sie zu streicheln. Der Schlaf schien all die Last von ihr genommen zu haben. Selbst der feine Schatten der Narbe an ihrer Schläfe störte den Frieden nicht. Sie lag da wie ein Kind, das sich beim Spiel gestoßen und den Schmerz längst vergessen hatte.
Er hoffte, die Alpträume würden ihr in dieser Nacht erspart bleiben.
Allein im großen Schlafzimmerbett wälzte Jan sich hin und her, zog schließlich die Vorhänge wieder auseinander und schaute hinauf zu den Sternen. Es überraschte ihn einmal mehr, wie viele davon aus ihrem abgeschirmten Hof zu sehen waren, während in anderen Nächten die Wolken die Lichter der Stadt zurückwarfen. Ein Wechsel aus unerwarteter Dunkelheit und unnatürlicher Helligkeit ...
Was war nur mit Anna los? War sie bereits zu Schulzeiten so gewesen? Oder hatte sie aus Alaska seelische Verletzungen davongetragen, die nicht so gut verheilten wie ihre Schulter: all die Angst, die sie ausgestanden hatte, und auch das Schuldgefühl, dass sie Laura nicht retten konnten? Oder aber ertrug Anna das Zusammenleben im Grunde ihres Wesens nicht und ihr unterdrückter Widerwille machte ihr zu schaffen? In Alaska hatte er um sie kämpfen können. Nun fühlte er sich machtlos und hoffte, dass sich die Dinge von allein wieder einrenken würden.
2. Kapitel
Das Telefon klingelte. Jan versuchte, sich seinen Gedanken über die Seminararbeit zu merken, stand auf und nahm ab. „Jan Reber, hallo?“
„ Hi, hier Chris.“
Jan war erleichtert. Annas Krise während der Caravaggio-Aufführung ließ ihn nicht los – er wusste nicht, was er insgeheim beim Klingeln erwartet hatte, jedenfalls war es gut, dass es nur Chris war. Doch sogleich wunderte er sich, weshalb sie mitten am Tag anrief. „Wie geht’s?“, fragte er bange.
„ Himmlisch! Wir durften heute Morgen alle einmal auf dem schwebenden Bett herumhüpfen, natürlich mit Kindersicherung. Und dir?“
„ Viel Arbeit, ich muss mich erst wieder daran gewöhnen, dass das Semester angefangen hat.“
„ Wie gut, dass wir keine richtigen Ferien haben! Ich würde mich verflixt schwertun, danach wieder die Ballettschuhe anzuziehen.“
„ Warst du nicht Ende Juli zwei Wochen weg?“
Sie lachte hell. „Erwischt.“
Jan dachte, dass sie jetzt zu ihrem eigentlichen Anliegen kommen würde, stattdessen fragte sie: „Was musst du denn alles für die Uni tun?“
„ Ich sauge mir gerade etwas zu Enjambements aus den Fingern.“
„ Das klingt nach einer Ballettfigur, bei uns ist auch alles auf Französisch. Hast du das Tanzen angefangen?“ Sie lachte wieder.
„ Ich kann mir auf einem Bein die Schuhe anziehen, mehr ist bei mir nicht drin. Enjambements hat damit zu tun, ob im Gedicht eine Sinneinheit mit einem Vers endet oder darüber hinausreicht.“ Er schob die Postkarten auf dem Schränkchen zwischen den Wohnzimmerfenstern zurecht. „Ähm, um ehrlich zu sein, ich sollte –“
„ Eigentlich wollte ich nur fragen, ob du mir demnächst bei einem Kaffee die Sonettform erklären kannst?“
Er schmunzelte. „Erzähl mir nicht, du willst jetzt von Akrobatik auf Germanistik umsatteln!“
„ Nein, nur ein bisschen quatschen.“
„ Wann sollen wir uns treffen?“
„ Ich richte mich nach dir.“ Ihre Stimme klang plötzlich dringlich. „Gerne bald.“
„ Ist was?“
Eine kurze Pause, Jan hörte Stimmen im Hintergrund. Chris sprach jetzt leiser: „Es ist wegen Anna. Sie ist heute so komisch. Total unkonzentriert. Das ist sie ja schon eine Weile, so abwesend, das hast du bestimmt viel stärker mitbekommen als ich, aber heute kriegt sie beim Tanzen nichts auf die Reihe und das ist noch nie passiert.“
Jan schaute aus dem Fenster. Gegenüber wohnte eine Familie, die Kinder hatten ein buntes Windrädchen am Balkongeländer angebracht, es drehte sich und blieb wieder stehen.
„ Mische ich mich zu sehr ein?“, fragte Chris vorsichtig.
„ Entschuldigung, nein. Ich weiß nur nicht, was ich sagen soll. Ich weiß selbst nicht, was sie hat, und dabei leben wir zusammen und ich verstehe nicht einmal, wie es sein kann, dass ich trotzdem so wenig von ihr weiß, verstehst du?“
„ Mach dir keine Vorwürfe, du unterstützt sie toll, und mein Verdacht – oh, das war
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