Wildnis: Thriller - Band 3 der Trilogie
gewartet, bis wir bei dir waren, damit er sich an deiner Angst befriedigen konnte.“
Jan erinnerte sich, wie apathisch sie Olivers Zudringlichkeit über sich hatte ergehen lassen, während er an den Pfahl gekettet gerast hatte.
Sie schaute auf ihre Handflächen. „Ich weiß, dass ich ihn getötet habe. Leider kann ich mich daran nicht erinnern.“ Sie legte sich eine Hand auf den Bauch und sagte übergangslos: „Ich habe Hunger!“
„ Seit wann hast du nichts mehr gegessen?“
„ Im Bus ist jemand ausgestiegen und hat eine halbvolle Packung Erdnüsse liegen lassen. Sonst habe ich heute noch nichts gegessen. Ich habe kein Geld und will nicht auffallen.“
„ Entschuldigung, daran habe ich gar nicht gedacht. In die entgegengesetzte Richtung liegt ein Zeltplatz, da kann ich uns etwas besorgen.“
„ Ich weiß, ich war mit meiner Mutter vor einem Jahr hier. Deswegen habe ich den Ort gewählt, die Rostocker Heide bietet ein ideales Versteck und der Hafen die Fluchtroute ins Ausland.“
Sie liefen zurück zu der Stelle, an der sie sich begegnet waren, und noch einige Minuten weiter. Hier und da waren nun Menschen zu sehen, eine Familie mit Rucksäcken, ein Glatzköpfiger mit Dobermann, ein dösender, braungebrannter Alter.
Jan ließ Anna zurück, ging über die Düne zum Camping-Gelände, folgte den Schildern und kam zu einem Platz, auf dem überdachte Bänke aufgestellt waren. Die Camping-Anlage war höchstens zu einem Drittel ausgelastet, dennoch hatten eine Fish-and-Chips-Bude und ein Tante-Emma-Laden geöffnet. Er kaufte Fischbrötchen, Wasser, Orangensaft und Kekse und packte alles in eine Plastiktüte. Vor dem Regal mit den Decken zögerte er, ob er das Notwendigste für eine Übernachtung besorgen sollte, entschied sich aber dagegen. Eine Nacht mit Anna im Freien war zu gefährlich.
Eilig kehrte er zum Strand zurück. Anna hatte sich ausgestreckt, das Gesicht mit einem Arm verdeckt. Sie musste eingenickt sein und erschrak, als Jan sie ansprach. Er zog sie hoch und gab ihr eines der Brötchen. Sie aß gierig, während sie zurück Richtung Heide gingen. Den Rest hoben sie sich für ein Picknick auf.
Nach einer Viertelstunde gelangten sie an einen mannshohen Findling mitten auf dem Strand und kletterten hinauf. Anna setzte sich vor Jan und er legte seine Arme um sie. Weit draußen auf dem Meer zogen die Cargoschiffe dahin, ein dünner weißer Strich am diesigen Horizont musste ein Segelschiff sein.
Anna drückte seine Arme gegen ihren Körper. „Es ist so gut, dass du da bist. Als ich alleine auf dich gewartet habe ... Ich wollte hinausschwimmen und mich sinken lassen, immer nur sinken lassen ... ein Sieg des Willens.“
„ Das darfst du nie tun! Verstehst du mich? Nie! Der Sieg des Willens ist zu leben!“
Ein Schütteln durchfuhr sie.
„ Versprichst du mir das?“
Sie zögerte.
„ Anna!“
„ Wenn du mich nicht alleine lässt ...“
Jan nahm sich vor, sie nicht mehr aus den Augen zu lassen.
Etwas später sagte sie: „Ich wäre so gerne Tänzerin geworden.“
Sie kreiste immer noch in ihren schwarzen Gedanken! Er verstand nicht genau, weswegen sie nicht mehr daran glaubte, Tänzerin werden zu können – dachte sie, dass sie ins Gefängnis oder die Psychiatrie müsste? Aber immerhin bedeutete das, dass sie sich mit der Realität auseinandersetzte. Wenn die Verschwörung an allem schuld und bald zerschlagen wäre, würde nichts sie daran hindern, ihre Tanzausbildung fortzusetzen. Ihr Satz enthielt also auch die Botschaft, dass sie selbst nicht mehr recht an ihre Fantastereien glaubte. Dennoch überwog Jans Angst.
„ Du wirst eine große Tänzerin!“, versicherte er ihr. „Auch wenn du eine Therapie machst, kannst du weiter üben. Und in einem Jahr oder zwei bist du zurück an der Ballettschule. Bei deinem Talent kannst du das locker aufholen. Ich will dich eines Tages im Staatsballett auftreten sehen, oder in Paris!“ Ihre Fingernägel gruben sich in seinen Handrücken.
Auf einer Pfahlreihe, die sich die Möwen auserkoren hatten, brach Streit los. Krächzen, Flügelschlagen, einige Möwen flogen auf, landeten neben den Pfosten im Wasser und beschimpften sich weiter.
„ Wir sollten uns im Wald verstecken“, sagte Anna. „Ich habe heute Nacht wenig geschlafen, ich bin so müde.“
„ Vielleicht sollten wir erst noch einmal darüber sprechen, wie es weitergeht.“
„ Lass mich erst etwas Schlaf nachholen, dann kann ich besser nachdenken.“
Sie stiegen von ihrem Felsen herab
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