Wilhelm II
feindlichen Amerika fürchtete, aber auch weil ihm, wie er ein Jahr später gegenüber Admiral Müller sagte, »das Versenken von unschuldigen Passagieren ein furchtbarer Gedanke sei«. 31 Im Februar 1915 willigte er jedoch, nachdem er erfahren hatte, dass die Amerikaner den Alliierten U-Boote und andere militärische Ausrüstung lieferten, unter dem Druck Tirpitz‘ein, dass alliierte Handelsschiffe innerhalb einer genau bezeichneten Kriegszone ohne Warnung torpediert werden durften. Der am 4. Februar eingeschlagene neue Kurs hatte Anfang Mai katastrophale Folgen, als die Lusitania, ein großes Passagierschiff mit illegaler Fracht an Bord torpediert wurde und sank. Unter den 1198 ertrunkenen Passagieren befanden sich über 100 amerikanische Staatsbürger. Bestürzt über den internationalen Aufschrei der Empörung und in dem verzweifelten Bestreben, einen amerikanischen Kriegseintritt zu verhindern, drängten Bethmann Hollweg und Müller darauf, wiederum Beschränkungen für den U-Bootkrieg einzuführen. Nach einer Sitzung des Kronrats am 31. Mai 1915 setzte sich Bethmann Hollweg gegen die Befürworter des U-Bootkrieges durch. Am nächsten Tag, dem 1. Juni, erließ Wilhelm an alle U-Bootkapitäne den Befehl, dass neutrale Schiffe künftig verschont werden sollten: »In zweifelhaften Fällen sei lieber ein feindliches Handelsschiff durchzulassen, als ein neutrales zu versenken«. Ein weiterer Befehl vom 6. Juni 1915 untersagte sämtliche Angriffe auf große Passagierschiffe jeder Nationalität. 32
Tirpitz und Bachmann schäumten vor Wut und antworteten mit einem gemeinsamen Telegramm, in dem sie ihre Einwände gegen die neue Linie darlegten, aber Wilhelm blieb standhaft und fügte hinzu, dass er davon ausgehe, dass der Befehl streng geheim bleibe – eine Vorsichtsmaßnahme, die verhindern sollte, dass der demagogische Marinesekretär öffentlich gegen
die Beschränkungen der Regierung agitierte. In einer ominösen Wiederholung der Insubordination Hindenburgs vom Januar reichten nunmehr Tirpitz und Bachmann ihren Abschied ein. Wilhelm lehnte dies ab und rief gegenüber einem Berater aus: »Nein! Die Herren haben zu gehorchen und zu bleiben. Regelrechte Militärverschwörung! Durch Tirpitz veranlaßt!« 33 Nach der Versenkung eines weiteren Passagierschiffes, der Arabic am 19. August 1915, die Leutnant Schneider von U-24 irrtümlich für einen Frachter gehalten hatte, überredete Bethmann Hollweg Wilhelm, weitere Beschränkungen für den Einsatz zu befehlen. Die U-Bootwaffe wurde dadurch »so gut wie kraftlos«. 34 Tirpitz war, wie zu erwarten, empört und reichte einmal mehr seinen Abschied ein. Wilhelm zögerte – genau wie im Fall Hindenburgs -, einen Offizier zu entlassen, der in der Öffentlichkeit so hohes Ansehen genoss, aber er entließ seine verhasste rechte Hand Gustav Bachmann. In einem Brief an den Leiter des Reichsmarineamtes, der sich auf die Argumente der politischen Berater um den Kanzler stützte, erklärte Wilhelm, dass es von höchster Bedeutung sei, einen Eintritt Amerikas als »aktiver Feind« in den Krieg zu verhindern, denn es »konnte illimitierte Geldmittel den Feinden darbieten«.
Ich mußte als Oberster Kriegsherr unbedingt verhindern, daß dieser Fall eintrat. […] Erst muß der Krieg gewonnen werden, dazu bedarf es der absoluten Ausschaltung irgendwelcher neuer Gegner; wie das geschieht […] ist […] meine Sache. Wie ich dabei meine Marine verwende ist auch allein meine Sache. 35
Während des ganzen Jahres 1916 hielten Wilhelm und die Gruppe um Bethmann Hollweg die U-Bootkrieg-Anhänger in Schach, obwohl im Parlament und in der Presse immer stärker für einen uneingeschränkten U-Bootkrieg geworben wurde. Am 15. März 1916 überredete Bethmann Hollweg den Kaiser, dem Marinesekretär einen Teil seiner Zuständigkeitsbereiche zu entziehen. Das Rücktrittsgesuch von Tirpitz – das dritte seit Kriegsausbruch –
wurde dieses Mal von Wilhelm akzeptiert. Nachdem es in einer kurzen Versuchsphase mit leicht gelockerten Beschränkungen für den U-Bootkrieg wiederum zu einer umstrittenen Versenkung kam (die Kanalfähre Sussex wurde am 24. März für einen Minenleger gehalten), erteilte Wilhelm den Befehl, überhaupt keine Schiffe (außer Kriegsschiffen der kriegführenden Mächte) ohne Warnung zu versenken. Daraufhin verzichteten die Flottenchefs ganz auf U-Bootoperationen im Atlantik und im Ärmelkanal. Somit füllte der Kaiser – zumindest für den Moment – das
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