0232 - Die Melodie der Tommy-Gun
Aus, dachte Johnny Palschewski. Aus und vorbei. Ich kann die Blutung nicht aufhalten. Herrgott, mir läuft mein eigenes Blut unter den Fingern davon. Aus und vorbei.
Er presste seine linke Hand auf die Wunde.
Die Taschenlampe lag brennend zwischen seinen Füßen. Ihr Schein geisterte durch das von Brausen und Gurgeln erfüllte Dunkel. Die schmutzigen Massen der Abwässer im Hauptkanal brodelten wie ein Hexensud.
Auf der gegenüberliegenden Wand des kalten, feuchten Tunnels riss der Lichtschein der Lampe ein kreisförmiges Stück Gemäuer aus der Finsternis. Man konnte die Ritzen zwischen dem Naturstein erkennen und die helleren Linien des Mörtels.
Ich muss die Lampe aufheben, dachte Johnny. Ohne Lampe kann ich den nächsten Aufstieg nicht finden. Hier ist es doch pechschwarz wie in der Hölle. Man könnte die Hand nicht vor den Augen sehen, selbst wenn man die Finger an die Nasenspitze legte. Ich muss die Lampe aufheben.
Vielleicht komme ich überhaupt nicht mehr hoch, wenn ich mich jetzt nach der Lampe bücke, dachte er. Ich merk, dass mir das Blut davonströmt.
Aber ich muss die Lampe haben. Ich will raus aus diesem Gestank und dieser Dunkelheit. Droben scheint die Sonne. New York erlebt wieder einen prächtigen Tag.
Johnny lehnte sein heißes Gesicht gegen die kalte Mauer. Eine Weile atmete er keuchend und stoßweise. Er konnte nichts mehr denken.
Irgendwann wurde ihm bewusst, dass er die Taschenlampe ja schon in der Hand hielt. In seiner linken Hand.
Ich will hier raus, sagte etwas in seinem Gehirn. Ich will in der Sonne sterben. Ich war schon immer ein Sonnennarr. Als Kind habe ich vom Morgen bis zum Abend in der Sonne gelegen und den ziehenden Wolken nachgestarrt, unten in den Ebenen von Texas, wo im Sommer das Präriegras grün und raschelnd im Winde wogt.
Er schob sich an der Mauer empor, bis er wieder auf seinen Beinen stand. Die Knie schienen aus Gummi zu sein, und er musste alles aufbieten, was er noch an Energie hatte.
Langsam taumelte er dicht an der Mauer entlang nach vorn. Zwei Schritte links von ihm gurgelten die Abwässer des nördlichen Manhattans brausend an ihm vorbei.
Als er den schmalen Durchgang entdeckte, der in den Aufstieg führte, wurde er von dem grellen Sonnenlicht fast geblendet, das oben durch das Kanalgitter fiel und lange, schiefe Kreuzschatten an die Wand malte. Er setzte den linken Fuß auf die untere Stufe der eisernen Treppe und zog sich mit beiden Händen hoch. Die Taschenlampe hatte er fallen lassen. Er brauchte sie nicht mehr. Die Sonne zeigte ihm den Weg.
Neunzehn Stufen können eine Ewigkeit sein.
Er schaffte vier, dann blieb er auf der steilen Stiege liegen. Der Schmerz tobte in ihm, dass ihm die Tränen über sein hageres Gesicht liefen.
Ich Idiot, dachte er. Warum habe ich keine Meldung für die Kriminalabteilung geschrieben? Warum muss ich mich selber darum kümmern? Ich hätte nur eine Meldung zu schreiben brauchen. Aber nein, ich musste ja unbedingt einen richtigen Gangster stellen. Wollte doch vom Captain auch mal öffentlich belobigt werden.
Johnny hob den Kopf und reckte das schmerzverzerrte Gesicht nach oben, wo der Sonnenschein durch das Kanalgitter in warmen Streifen in die Dunkelheit fiel. Millionen winziger Stäubchen tanzten in den goldenen, durchsichtigen Sonnenstrahlen wie winzige Märchenwesen. Johnny blickte hinauf zu den Sonnenstrahlen.
Sah er wirklich blauen Himmel oder gaukelte ihm sein schwindendes Bewusstsein das Bild seiner Sehnsucht nur vor?
Hilda… dachte er. Jetzt werde ich ihr' nie die weiten Ebenen von Texas zeigen können und das blaue Präriegras. Und die Rinder, wenn sie in großen Herden langsam über die Ebene ziehen. Warum muss ich schon sterben? Ich bin vierundzwanzig Jahre alt, und gerade fing das Leben an, schön zu werden… Morgen werden sie meinen Namen in die Bronzetafel im Zimmer des Polizeipräsidenten meißeln. Johnny Palschewski… in treuer Pflichterfüllung…
Der Tod gaukelte Johnny Wahngebilde vor.
Johnny sah deutlich das zarte Gesicht seines Mädchens vor sich. Die hübschen Lippen. Die Bogen der dunklen Brauen. Und die weiße, makellose Stirn. »Hilda«, wollte er sagen.
Stattdessen lief ein letztes Zucken durch seinen gequälten Körper. Die Finger, die sich an der nächsten Stufe festgekrallt hatten, lösten sich zögernd und langsam. Das letzte, was er fühlte, war, wie etwas Eiskaltes sein Herz berührte.
***
Hilda Duncan war zwanzig Jahre alt und ein außergewöhnlich hübsches Mädchen. Sie
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