Wilhelm II
dienten und nicht dem Parlament Rechenschaft ablegen mussten, und damit über eine eigene institutionelle Machtbasis. Dominic Lieven hat diesen weitverzweigten Apparat, der immense Mengen an Schreibarbeit bewältigte, mit der völlig andersartigen Situation in Russland verglichen, wo der Zar, der weder ein persönliches Sekretariat noch einen Privatsekretär hatte, noch selbst die Umschläge abstempelte und mit Bediensteten und Ministern mittels handschriftlicher Notizen kommunizierte. 10
Als Kriegsherr der Ära der nationalen Einigung hatte Wilhelm I. einzigartiges, persönliches Ansehen genossen. Solange das System jedoch so eigenständig vom Kanzler gelenkt wurde, bot sich zwangsläufig kaum eine Gelegenheit, das politische Potenzial der preußisch-kaiserlichen Krone auszuloten. Es wäre falsch zu behaupten, dass Wilhelm I. eine bedeutungslose Figur gewesen sei. Sein ostdeutscher Biograf Karl-Heinz Börner hat davor gewarnt, den ersten Kaiser als eine »Schattenfigur im System des deutschen Bonapartismus« zu betrachten. 11 Er behauptete sich gelegentlich gegen Bismarck, und er hielt sich stets über die Entwicklungen in allen Feldern der Politik auf dem Laufenden.
Bis zum Ende seiner Herrschaft hielt Wilhelm I. daran fest, dass ihm die letzte Entscheidung zustehe. Ein königliches Dekret von 1882 an das preußische Staatsministerium betonte, dass der König das Recht habe, »die Regierung und die Politik Preußens nach eigenem Ermessen zu leiten«. Handlungen der Regierung waren letztlich Handlungen des (preußischen) Königs, »aus dessen Entschließung sie hervorgehen und der seine Willensmeinung durch sie verfassungsmäßig ausdrückt«. 12
Dennoch liegt es auf der Hand, dass sich ein Mann mit Bismarcks beispiellosem Geschick bei der Manipulierung des schwer fassbaren kaiserlichen und preußischen Systems so gut wie unverzichtbar für den Kaiser machen konnte. In der Regel haben auch die Historiker, die sich mit der Beziehung zwischen den beiden Männern befassten, die Fähigkeit Bismarcks herausgestrichen, den Kaiser in den meisten wichtigen Fragen zur Zustimmung zu drängen, zu erpressen oder zu überreden. Wilhelm I. fand sich häufig mit politischen Schritten ab, die eigentlich seinem Instinkt widersprachen. Er hatte den Krieg gegen Österreich nicht gewollt, ihm missfiel die liberale Tendenz der deutschen Politik in dem Jahrzehnt nach 1871, und er missbilligte Bismarcks politischen Feldzug gegen die Katholiken. Wenn es zur direkten Konfrontation kam, spielte Bismarck das volle Charisma seiner Persönlichkeit aus und verlieh seinen Argumenten mit Tränen, Wutanfällen und Rücktrittsdrohungen Nachdruck. Eben diese Szenen waren dem Kaiser schier unerträglich und veranlassten ihn zu der berühmten Beobachtung: »Es ist schwer, unter Bismarck Kaiser zu sein.« Vermutlich war es keine falsche Bescheidenheit, wenn Wilhelm I. bei anderer Gelegenheit bemerkte, dass er »wichtiger als ich« sei. 13
Das Kräfteverhältnis zwischen Kanzler und Kaiser/König darf nicht isoliert von den anderen, institutionellen Machtzentren betrachtet werden; es hing von einer Reihe äußerer Faktoren ab, von denen die Haltung der Mehrheit im Reichstag wohl der wichtigste war. Ein Kanzler mit einer starken parlamentarischen Unterstützung konnte mit dem Monarchen aus einer entsprechend
starken Position heraus verhandeln. Ein feindlich gesinnter Reichstag hingegen minderte die Wirkung des Kanzlers als politischer Lenker und verstärkte seine Abhängigkeit vom Souverän, wie Bismarck in den Jahren 1881-1886 feststellen musste. Es ist kein Zufall, dass Bismarcks Absetzung unter Wilhelm II. genau zu dem Zeitpunkt erfolgte, als Bismarcks »Kartell« bei den Reichstagswahlen vom Februar 1890 die Mehrheit verloren hatte.
Der Reichstag war nach dem Bundesrat und der preußischdeutschen Krone die dritte Säule der Reichsverfassung. Während der Bundesrat die weitreichende Autonomie der Mitgliedsstaaten symbolisierte, repräsentierte der Reichstag die männliche Wählerschaft des deutschen Nationalstaats. Da die Vertreter im Bundesrat von Fürsten oder Königen berufen wurden, repräsentierte der Rat das dynastische Prinzip; der Reichstag hingegen, der alle drei Jahre (nach 1885 alle fünf Jahre) nach dem allgemeinen, freien Männerwahlrecht neu gewählt wurde, zählte damals zu den demokratischsten Legislativen auf dem europäischen Kontinent. Die Zustimmung des Reichstags war für das Inkrafttreten von Gesetzesvorlagen erforderlich, und
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