Wilhelm II
Nachdem Wilhelm zu Ohren gekommen war, dass Bismarck dem russischen Botschafter Pawel Schuwalow mitgeteilt hatte, er sei aus Protest gegen die antirussische Politik des Kaisers zurückgetreten, zog Wilhelm mehrfach juristische Schritte unter dem Vorwurf des Hochverrats in Erwägung. Das Reichsamt für Justiz leitete zu diesem Zweck sogar eine vorläufige
Untersuchung ein. 56 Im Sommer 1892 bereitete Bismarck sich wegen einer Familienhochzeit auf eine Reise nach Wien vor. Wilhelm nahm dies zum Anlass, dem österreichischen Kaiser einen Brief zu schreiben, und drängte ihn, diesem »ungehorsamen Untertan« keine Audienz zu gewähren, solange er nicht reuevoll zu Wilhelm gekommen sei und »peccavi« (Ich habe gesündigt) gesagt habe – diese Boshaftigkeit verzieh die deutsche Öffentlichkeit, einem gut informierten Beobachter zufolge, dem Kaiser nie. 57 Im Urlaub im Herbst 1893 schäumte Wilhelm immer noch vor Wut und sprach »von einem großen einstmaligen Strafgericht [gegen Bismarck]«. 58 Eine weithin publik gemachte und äußerst theatralische Begegnung zwischen den beiden Männern in Berlin im Januar 1894 ergab eher einen Waffenstillstand als eine dauerhafte Versöhnung. Nachdem Bismarck im Jahr 1896 den Inhalt des Rückversicherungsvertrags veröffentlicht hatte, sprach Wilhelm erneut davon, den »alten bösen Mann« in der Festung von Spandau einzusperren. 59
Wilhelm empfand für den alten Mann recht verwirrende und intensive Gefühle. »Wie habe ich den Fürsten Bismarck geliebt!«, teilte er Philipp Eulenburg im Sommer 1896 während einer der alljährlichen Segeltörns in Skandinavien mit. »Was habe ich ihm geopfert! Ich habe ihm mein Elternhaus zum Opfer gebracht! Um seinetwillen bin ich durch Jahre meines Lebens misshandelt worden, und ich habe es ertragen, weil ich ihn als den lebendigen Ausdruck des preußischen Vaterlandes empfand.« 60 Solche Ausbrüche künden nicht nur von Selbstmitleid und Selbstrechtfertigung; sie geben einen Hinweis darauf, was es bedeutete, im Zeitalter eines Titans der europäischen Geschichte aufzuwachsen. Wenn Bismarck weitgehend den Platz von Wilhelms Vater innerhalb der politischen Loyalitäten des Prinzen usurpiert hatte, so übte er einen entsprechend starken Einfluss auf die politische Vorstellungskraft des neuen Kaisers aus. Es ist in der Tat frappierend, wie häufig sich Wilhelm – insbesondere in den neunziger Jahren – für politische Linien und Haltungen aussprach, die ihrem Geist nach als »Bismarcksche« gelten konnten.
Zum Beispiel hielt er das Kartell weiterhin für die solideste Basis einer Regierung, selbst nachdem die Parteien des Kartells die Fähigkeit verloren hatten, eine parlamentarische Mehrheit im Reichstag zu bilden. 61 Holstein war der Meinung, dass einige persönliche Einmischungen des Kaisers in die deutsche Diplomatie, die später diskutiert werden, in Wirklichkeit Versuche waren, die Außenpolitik des Neuen Kurses mit Bismarckschen Prioritäten in Einklang zu bringen. 62 Wenn Wilhelm danach trachtete, seine eigene politische Vorrangstellung zu festigen, so könnte man argumentieren, wollte er in Wirklichkeit nur »die Fiktion des monarchischen Regiments« buchstäblich umsetzen, welche die »Lebenslüge« des Bismarckschen Systems gewesen war. 63
Selbst das bekannte Liebäugeln Wilhelms mit einem Staatsstreich nach mehrfachen Auflösungen des Reichstags lässt sich mit Recht auf Bismarck zurückführen. Bei zahlreichen Anlässen hatte der Kanzler laut über die Möglichkeit nachgedacht, das Parlament zu schließen oder seine Vorrechte durch einen Staatsstreich radikal zu beschneiden. Im folgenden Jahrzehnt drohte Kaiser Wilhelm II. in einem ähnlichen Ton, »vor äußersten Maßnahmen nicht zurückzuschrecken« und den Bundesrat wiederum als wahren Sitz der exekutiven Gewalt einzusetzen, im Einklang mit »Bismarcks Theorie« von der deutschen Verfassung. 64 Während eines kurzen Tauwetters in ihren Beziehungen im Februar 1890 schärfte Bismarck Wilhelm ein, vor einer Politik der Konfrontation nicht zurückzuschrecken, und nahm ihm das Versprechen ab, »notfalls zu schießen«, wenn es sich als unmöglich erweisen sollte, den Reichstag zur Räson zu bringen. Kurzfristig lehnte Wilhelm, wie gezeigt, diese Option demonstrativ ab, aber allem Anschein nach ließ er sich von der inneren Logik überzeugen, auch wenn er sie aus taktischen Gründen ablehnte. 65 Sein törichtes (unverschlüsseltes) Telegramm vom März 1890 an einen Gardeoffizier in
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