Wilhelm II
Institutionen der Partei und die Disziplin waren schwach, der Wahlkampf farblos und Massenagitation so gut wie unbekannt. Nach den Wahlen vom Februar 1890 sollte jedoch eine neuartige Parteienorganisation zunehmend die politische Bühne beherrschen. Gestützt auf eine große, Beitrag zahlende Mitgliederzahl oder verbündet mit starken Lobbygruppen waren die neuen Parteien Organisationen, die ein ständiges Personal beschäftigten und eine Palette neuer Techniken wie Kundgebungen, Demonstrationen und Agitation einsetzten, um die Wähler zu mobilisieren. 8 Diese Sichtweise ist gelegentlich auch angefochten worden, aber aktuelle Studien unterstützen und untermauern tendenziell Nipperdeys Interpretation. Sie bezeichnen die neunziger Jahre als »wichtigen Moment des ständigen Wechsels«, in dem das liberal dominierte, politische Spektrum der Bismarck-Ära »einer komplexeren und zersplitterteren Palette von Kräften« Platz machte. 9
Diese Veränderungen auf organisatorischer Ebene wurden durch den allgemeinen Wandel in der politischen Kultur noch unterstrichen: Die Ausbreitung von Lobbygruppen und ihr zunehmender Einfluss auf Parteiorganisationen führten zu einer Fragmentierung und zu einem Wechselspiel des politischen Diskurses, so dass in manchen Fällen etwa die Wortwahl und die Argumente der radikalen Agrarvertreter und der Sozialdemokraten kaum voneinander zu unterscheiden waren. 10 Die neunziger Jahre erlebten außerdem eine Verschärfung im Ton der kritischen öffentlichen Sphäre. Das lässt sich natürlich nur schwer mit Zahlen belegen, aber Debatten im Reichstag, die Kritik in der Presse und politische Diskussionen waren insgesamt derber und fundamentaler in ihrer Opposition gegen die bestehende
Ordnung. Auch der Umgang mit der Person des Staatsoberhaupts verschärfte und veränderte sich in einer Weise, wie es unter Wilhelm I. undenkbar gewesen wäre. Dieser letzte Punkt ist für die Zwecke unserer Untersuchung am wichtigsten. Generell kann man sagen, dass der Regierung allmählich die Kontrolle über die öffentliche Sphäre entglitt. Das war zum Teil eine Folge von Bismarcks Abschied aus der Politik. Dem Ex-Kanzler war es durch eine verzweigte, geheime Organisation, die aus dem konfiszierten Staatsschatz der Hannoverschen Krone finanziert wurde, gelungen, einen Einfluss auf die Presseberichterstattung auszuüben, der bis weit ins Hinterland reichte. Kein einziger seiner Nachfolger erlangte hingegen jemals eine so starke Macht über die öffentliche Debatte wie Bismarck. 11
Die neue Kräfteverteilung unter den Parteien sorgte in hohen politischen Kreisen für Unruhe, insbesondere in dem kleinen Kreis jener, die Wilhelm II. am nächsten standen. Zu den beständigsten Themen in John Röhls maßgeblicher Edition der politischen Korrespondenz des Intimus Wilhelms, Graf Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, zählt die Sorge um den Einfluss, den die Zentrumspartei in der neuen, politischen Konstellation ausüben werde. Das Zentrum galt als Trojanisches Pferd eines drohenden ultramontanen Katholizismus mit einem rückwärts gewandten, partikularistischen Programm in kulturellen Fragen und einer engstirnig »römischen« Außenpolitik, welche die Einheit des Reiches von innen untergraben und seine internationalen Verpflichtungen kompromittieren werde. 12 Friedrich von Holstein – eine weitere Schlüsselfigur unter den Beratern des neuen Kaisers – warnte, dass Zugeständnisse an das Zentrum die partikularistischen Kräfte bis zu einem Punkt stärken würden, an dem sich das Reich unter dem Druck der inneren, konfessionellen Spannungen buchstäblich auflösen werde. 13 Diese Ängste wurden in regelmäßigen Abständen Wilhelm selbst vorgetragen. Letzten Endes lag es auf der Hand, dass sich der Kaiser und seine Minister in irgendeiner Form mit der einflussreichen Partei der deutschen Katholiken arrangieren mussten. Doch die Beziehung
der Regierung zum Zentrum blieb ein ständiger Zankapfel zwischen einem Kaiser, der von Zugeständnissen nichts mehr wissen wollte, und einem Kanzler, der mit dem Landtag und dem Reichstag verhandeln musste.
Ein weiterer, und in mancher Hinsicht größerer Anlass zur Sorge für den Kreis um Wilhelm waren die grundlegenden Veränderungen innerhalb der konservativen Partei. Der wachsende Extremismus und die Kompromisslosigkeit der konservativen Forderungen hatten zur Folge, dass ihre Unterstützung nur zu einem Preis zu bekommen war, den die Regierung (geschweige denn andere Parteien und
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