Wilhelm II
Berlin, in dem er die Truppen aufforderte, bei Zusammenstößen mit streikenden Arbeitern vom Gewehre Gebrauch zu machen, zeigt exemplarisch
Wilhelms Entschlossenheit, die Grundsätze seines Lehrmeisters umzusetzen und sich als würdiger Nachfolger des Kanzlers zu erweisen.
In einer polemischen Analyse der »Erbschaft Bismarcks« beobachtete Max Weber, dass jene, die Bismarck bewunderten, tendenziell weniger »die Großartigkeit seines feinen und beherrschenden Geistes, sondern ausschließlich den Einschlag von Gewaltsamkeit und List in seiner staatsmännischen Methode, das scheinbar oder wirklich brutale daran« bewunderten. 66 Nicht nur durch seine Proteste, sondern durch sein ganzes Verhalten im Amt demonstrierte Wilhelm in den neunziger Jahren, dass er ein Bismarckianer dieser Art war. Seine Weigerung, Kritik seiner Entourage zu dulden (und die daraus folgende Unterwürfigkeit und der Byzantinismus seines Milieus), ließen einige gut unterrichtete Zeitgenossen Parallelen zu Bismarck ziehen. »Wir haben darüber geklagt, dass Bismarck die Charaktere unterdrückt«, schrieb Waldersee im Dezember 1890, »hier sehen wir aber dasselbe, nur in stärkerer und gefährlicherer Form.« 67 Im Sommer 1892 warf Wilhelm seinen Ministern vor, dass sie nicht so eilfertig seine Wünsche ausführen würden, wie sie es noch unter dem ersten Kanzler üblicherweise getan hatten. »Früher ging es in ernsten Fragen oft in der Weise her, dass Bismarck den Gedanken, den er später mit seiner Genialität zu vertreten beabsichtigte, anregte und sodann im Ministerium die Möglichkeit der praktischen Durchführung besprach. Da kam es denn, dass ein Minister erklärte: ›Ich mache es.‹« 68 Bei einem späteren Anlass behauptete er nach einem öffentlichen Aufschrei der Empörung über sein diktatorisches Benehmen, dass er endlich »die kolossale Perfidie des alten Bismarck« begreife, der ihn ermuntert habe, »den Absolutismus schärfer hervorzudrehen«. 69 Anders ausgedrückt, als Wilhelm die Absicht bekundet hatte, sein »eigener Kanzler« zu sein, da meinte er nicht allein, dass er die politischen Funktionen des Amtes übernehmen würde, sondern auch dass er sie nach dem Vorbild des Mannes ausüben würde, der für eine ganze Generation Deutscher die Bedeutung politischer
Macht definiert hatte. Der berühmte Konflikt zwischen Wilhelm und Bismarck darf nicht blind machen für die Tatsache, dass die Auffassung und Ausübung des Amtes durch den letzten deutschen Kaiser der – wenn auch plumpe und illusorische – Versuch war, die großen Errungenschaften des ersten deutschen Kanzlers zu wiederholen.
3
Im Alleingang
Das erste Jahrzehnt der Herrschaft Wilhelms II. nach dem Abschied von Bismarck fiel mit einer Phase massiver innenpolitischer Unruhen in Deutschland zusammen. Die neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts waren eine »Ära der Reizbarkeit« und der »politischen Nervosität«, des »verschärften Konflikts zwischen Regierung und Reichstag«. 1 Sie waren außerdem das Jahrzehnt der kaiserlichen Herrschaft, in dem sich Wilhelm persönlich am stärksten in die Politik einschaltete. Vor allem in diesem Zeitraum lotete er das Machtpotenzial seines Amtes aus. Wilhelm begann die neunziger Jahre mit dem festen Entschluss, in seiner eigenen Person die volle Macht zu vereinen, die Bismarck besessen hatte. In der Tat war er sich seiner Fähigkeit, das deutsche politische System zu lenken, so sicher, dass er Caprivi direkt sagte, er solle seine Amtszeit als Übergangslösung betrachten; das Kanzleramt selbst werde schon bald überflüssig werden. 2 Die politischen Initiativen des Kaisers, die Ambitionen, die mit ihnen verbunden waren, die Reaktionen, mit denen sie aufgenommen wurden, die Reibungen, die sie verursachten sowie die Zwänge, denen sie unterworfen wurden, sind Gegenstand dieses Kapitels. Zunächst wenden wir uns jedoch kurz den Veränderungen zu, die sich in der deutschen Politik nach 1890 vollzogen.
Die nervösen Neunziger
»Wir leben in einem Übergangszustande!«, erklärte Wilhelm im Februar 1892 vor dem Brandenburgischen Landtag. »Wir gehen durch bewegte und anregende Tage hindurch [...]« 3 Im Rückblick fällt es leicht, dieses Urteil voll und ganz zu unterstützen.
Der beispiellose Erfolg der Sozialdemokratischen Partei bei den Wahlen vom Februar 1890 gab das Signal zum Beginn einer neuen Ära in der deutschen Politik. Das alte Sozialistengesetz, das eine juristische Basis für die Unterdrückung sozialdemokratischer
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