Wilhelm II
Markgrafen […] die Treue ferner zu wahren […] und bitte Sie, die schwere und gewiss auch dornenvolle Bürde [des Amtes] mutig zu tragen.« 65
Da Wilhelm nach der Daily Telegraph- Krise von 1908 von direkten Einmischungen in die Innenpolitik absah und die Regierung mit dem polarisierten Reichstag in einer Sackgasse steckte, schwand jedenfalls das Potenzial für ernste Meinungsverschiedenheiten zwischen Kaiser und Kanzler wegen innenpolitischer Themen. Einerseits hatte Wilhelms Interesse an innenpolitischen Fragen dramatisch abgenommen und er hatte mittlerweile kaum noch Kontakt zu den Ministern, welche die innere Verwaltung leiteten. 66 Andererseits verengte sich ohnehin der Spielraum für Initiativen seitens der Krone, weil die Fähigkeit der Regierung
abnahm, selbst für dringend benötigte Reformen einen politischen Konsens zu schaffen. 67 Folglich ist es kein Zufall, dass die politischen Konflikte, die von kaiserlichen Interventionen ausgelöst wurden, nach 1909 verstärkt in Feldern auftraten, welche die Beziehung zwischen ziviler und militärischer Gewalt betrafen. Wenn Wilhelm als Faktor in der Innenpolitik und bei politischen Entscheidungen weitgehend neutralisiert worden war, so blieb er dennoch ein wichtiger Akteur kraft seines einzigartigen Status als einziges Verfassungsorgan, in dem die zivilen und militärischen Befehlsketten zusammenliefen.
Nie trat dies deutlicher zutage als in den Krisen, die aufgrund der Beziehungen zwischen den zivilen und militärischen Behörden im Elsass und in Lothringen im letzten Jahrzehnt vor 1914 ausbrachen. Elsass-Lothringen war nach dem deutsch-französischen Krieg 1870/71 von Deutschland annektiert worden und hatte einen einzigartigen konstitutionellen Status im deutschen Reich. Die Region war kein Bundesstaat, sondern ein »Reichsland«; sie wurde von einem Statthalter verwaltet, der vom Kaiser ernannt und entlassen wurde. Der Statthalter operierte außerhalb der Zuständigkeit und Aufsicht des Kanzlers – seine Ernennung und Entlassung mussten vom Kanzler gegengezeichnet werden, aber sein Verhalten im Amt war eine Angelegenheit, die nur den Statthalter und den Kaiser etwas anging. Dasselbe galt für die militärischen Kommandeure, die in der Provinz stationiert waren. Wie ihre Widerparts im ganzen Reich und auf hoher See genossen sie über das Militärkabinett direkten Zugang zum Kaiser. Folglich waren sie nicht verpflichtet, den Statthalter oder einen anderen Repräsentanten der zivilen Behörden bei ihren Gesprächen mit dem Souverän über die Militärpolitik in der Provinz hinzuzuziehen. Falls es zu einem Konflikt zwischen dem zivilen und militärischen Arm der Regierung in Elsass-Lothringen kommen sollte, war somit der Kaiser persönlich der erste und einzige Schlichter.
Es bestand ein erhebliches Konfliktpotenzial bezüglich der Politik in diesem Territorium, vor allen Dingen deshalb, weil
die zivilen und militärischen Behörden die Provinz völlig unterschiedlich betrachteten. Für den Statthalter Carl Graf von Wedel und seine zivile Verwaltung (und für die Berliner Regierung) lautete das langfristige Ziel, die »innere Integration« der Provinz durch eine Mischung aus konstitutionellen Zugeständnissen und guter Regierung zu fördern. Bethmann Hollwegs Ziel war es letztlich, aus Elsass-Lothringen einen eigenen Bundesstaat mit eigener Dynastie zu schaffen, mit anderen Worten, die profranzösische Stimmung mit Zugeständnissen an den regionalen Partikularismus zu neutralisieren. Die Militärbehörden hingegen betrachteten die Provinz als militarisierte Grenzregion mit einer überaus wichtigen Sicherheitsfunktion für die deutsche Verteidigungspolitik. Für die Militärs schadeten jegliche Zugeständnisse an die separatistische Stimmung in den Herzogtümern lediglich den deutschen Sicherheitsinteressen. In ihren Augen waren eine strenge Disziplin und die Bereitschaft, Gewalt gegen jedes Fehlverhalten seitens der Einheimischen einzusetzen, die Schlüssel für eine erfolgreiche Verwaltung der Region. Die Beziehungen zwischen Wedel und den Korpskommandeuren in Elsass-Lothringen waren entsprechend gespannt.
Die Stimmung wurde ab 1909/10 durch eine ganze Reihe von Zusammenstößen zwischen Einheimischen und den deutschen Behörden vor Ort zusätzlich angeheizt. Häufig ging es nur um banale Vorkommnisse wie die Verspottung von Soldaten durch provozierende Jugendliche, aber sie fanden eine unverhältnismäßig starke Resonanz in der deutschen, chauvinistischen
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