Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition)
Einfluss auf das Kräftegleichgewicht hatte.
Angesichts dieser Sorgen ist es wohl kein Wunder, dass Wilhelm so schockiert auf Haldanes Warnung an Lichnowsky reagierte. Die Aussicht, einen Krieg ausschließlich gegen Russland zu führen, erschien nunmehr illusorisch, genau wie ein Zweifrontenkrieg ohne Großbritannien. Dieser Umstand war um so alarmierender, weil er unmittelbar dem Rat widersprach, den Wilhelm unlängst von seinen höchsten Beratern erhalten hatte. Über die unvermittelte Einengung der deutschen Perspektiven war er so sehr beunruhigt, dass die britische Warnung in seinen Augen bereits einer »moralischen Kriegserklärung« gleichkam. 25 Der »Existenzkampf mit drei Großmächten«, der Wilhelms Albtraum gewesen war, schien nunmehr unmittelbar bevorzustehen. Wie John Röhl gezeigt hat, sprach aus seinen Äußerungen in den Tagen nach dem Treffen vom 8. Dezember eine tiefe Bitterkeit über die, in seinen Augen, unbegreifliche Perfidie der britischen Politik. Haldanes Ermahnungen würden, so teilte er dem österreichischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand mit, die »nackte Schamlosigkeit« der britischen Politik der »balance of power« enthüllen, die in Wahrheit auf ein »Ausspielen der Großmächte gegeneinander zum Vorteil Englands« hinauslief. 26
Die Historiker sind sich nicht einig, wie dieser »Kriegsrat«, wie der nicht eingeladene Bethmann Hollweg ihn sarkastisch nannte, zu bewerten ist. John Röhl ist genau wie Fritz Fischer, Immanuel Geiss und andere der Ansicht, dass der Kriegsrat vom Dezember 1912 nicht nur die weiterhin zentrale Stellung des Kaisers im Entscheidungsprozess belegte, sondern auch den Weg für einen umfassenden Kriegsplan frei machte. Dazu gehörte es unter anderem, die Marine, das Heer, die deutsche Wirtschaft und die öffentliche Meinung auf einen Krieg einzustimmen und so die Auslösung eines vorsätzlichen Konfliktes vorzubereiten. 27 Andere hingegen, darunter Wolfgang J. Mommsen, Dieter Groh und Klaus Hildebrand, werten das Treffen als eine reflexartige Reaktion auf eine internationale Krise und haben die Auffassung verworfen, dass das deutsche Militär und die politische Führung von da an den Countdown zu einem im Voraus geplanten, europäischen Krieg begonnen hätten. 28 Während Röhl die Abwesenheit Bethmann Hollwegs und Kiderlen-Wächters als Beweis für eine unheilvolle Vorrangstellung des Militärs über die zivilen Entscheidungsträger an der Spitze des deutschen, politischen Systems wertet, stufen seine Gegner das Fehlen des Kanzlers lediglich als Hinweis auf den untergeordneten Status des Treffens ein und heben hervor, dass die dort getroffenen »Entscheidungen« keine wesentlichen, praktischen Konsequenzen hatten. Erwin Hölzle vertritt sogar die These, dass nicht Wilhelm, sondern Bethmann Hollweg die Hauptfigur des Dramas vom 8. Dezember gewesen sei: »Die Nullifikation kam von der politischen Leitung. Bethmann wies den Kaiser in seine Schranken.« 29
Welche Seite hat Recht? Einzelne Aspekte beider Positionen lassen sich durch die vorliegenden Quellen stützen. Röhl hebt zu Recht die zentrale Stellung Wilhelms innerhalb des deutschen Verfassungssystems hervor (kein anderer hätte so ein Treffen einberufen können) und weist auf die Radikalität der Ansichten hin, die von den anwesenden Generälen und Admirälen vertreten wurden. Das Treffen enthüllte – auch wenn das im Grunde nichts Neues war -, wie fest etabliert das Konzept des Präventivkriegs in der Führung der deutschen Streitkräfte war. Außerdem deckte es auf, wie groß die Kluft zwischen der militärischen und der zivilen Führung mittlerweile geworden war. Während Bethmann Hollweg mit seiner Diplomatie weiterhin die Ziele verfolgte, Großbritannien zu versöhnen und Russland zu isolieren, konzentrierten sich die Kriegspläne des Militärs bereits auf den »unvermeidbaren« Krieg im Westen – der »Mobilmachungsplan Ost« wurde im Jahr 1913 aufgegeben. 30
Dennoch: Admiral Müller schloss seine Version von der Diskussion mit der Beobachtung, dass das Ergebnis des Treffens »so ziemlich 0 [Null]« gewesen sei. Und das wird von den weiteren Ereignissen augenscheinlich auch bestätigt. Das Heeresgesetz von 1913 war keine Folge des Treffens; offiziell hatte das Projekt bereits im November 1912 grünes Licht bekommen, und die vorgeschlagene Ausweitung war ohnehin längst überfällig. 31 Es folgte kein nationaler Propagandafeldzug, und die Beweise für eine konzertierte
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