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Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition)

Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition)

Titel: Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Clark
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eines Krieges zwischen Deutschland und einer anderen Kontinentalmacht. Warum weigerten die Briten sich so hartnäckig, dieser Forderung nachzukommen? Das Argument, dass die Briten durch die Verpflichtungen gegenüber Frankreich gebunden waren, überzeugt nicht, weil Bethmann Hollweg bereit war, das vorgeschlagene Neutralitätsabkommen auf Fälle zu begrenzen, in denen Deutschland nicht als Aggressor bezeichnet werden könne. Er räumte auch ausdrücklich ein, dass jede erzielte Einigung insofern keine Gültigkeit hätte, als sie möglicherweise nicht vereinbar mit bestehenden Abkommen sei, welche die hohen Vertrag schließenden Parteien bereits geschlossen hatten. 95 Der wahre Grund für die britische Zurückhaltung war eher die verständliche Abneigung, etwas ohne Gegenleistung abzugeben: Großbritannien gewann das Wettrüsten auf See, ohne einen Finger zu rühren, und genoss eine unangefochtene Überlegenheit. Bethmann Hollweg und Wilhelm wollten ein Neutralitätsabkommen im Gegenzug für die Anerkennung, dass die britische Überlegenheit ein Dauerzustand bleibt. »Warum sollte Großbritannien«, wie Niall Ferguson schreibt, »um etwas feilschen, das es bereits besaß?« 96 Kurzum: Nicht an den Schiffen an sich scheiterte ein Abkommen, sondern an der Unvereinbarkeit der wahrgenommenen Interessen auf beiden Seiten. 97
    Wie hätte die deutsche Politik ausgesehen, wenn Wilhelm nicht auf dem Thron gesessen hätte? Es bedarf der spekulativen Szenarien der »virtuellen Geschichte«, um zu erkennen, dass der innenpolitische Druck zugunsten einer Expansion der Kriegsmarine dennoch sehr stark gewesen wäre. Die intensive Beschäftigung der deutschen nationalen Bewegung mit der Marine reichte bis zur Frankfurter Nationalversammlung und der Rolle der dänischen Marine bei der Verteidigung Schleswig-Holsteins zurück. 98 In den neunziger Jahren hatte sich die Beschäftigung zu einer Besessenheit im deutschen Wirtschaftsbürgertum gesteigert. Der Durst nach Ansehen und internationaler Anerkennung war zu der »größten politischen Tatsache« im öffentlichen Leben geworden. 99 Die größte Leistung von Tirpitz war es, jenes soziale und politische Potenzial zur Unterstützung eines umfassenden Flottenbauprogramms zu mobilisieren. Freilich hatte auch Tirpitz seine Kritiker, und er verdankte seinen Amtsantritt Wilhelm, aber es ist nicht anzunehmen, dass ein so tatkräftiger Mann wie Tirpitz, der so feinfühlig auf die öffentliche Meinung reagierte und so gute Verbindungen im Marineestablishment hatte, ohne Wilhelms Eingreifen in der Namenlosigkeit versunken wäre. 100 Mit anderen Worten, Deutschland hätte aller Wahrscheinlichkeit nach, auch ohne Wilhelm auf dem Thron, ein mehr oder weniger ehrgeiziges Schiffbauprogramm in die Wege geleitet.
    Jedenfalls ist es fraglich, ob eine weniger auf Konfrontation ausgerichtete Flottenpolitik langfristig eine Entfremdung Deutschlands von Großbritannien verhindert hätte. Denn nicht nur das Wettrüsten weckte die britischen Ängste und Befürchtungen, sondern die gigantische industrielle und kommerzielle Expansion Deutschlands als Ganzes. Der Stabschef der Marine Albrecht von Stosch hatte mit seiner Beobachtung aus dem Februar 1896 ganz Recht, dass die wahre Erklärung für den Groll der Engländer gegen Deutschland in der deutschen Konkurrenz auf dem Weltmarkt liege. 101 Bezeichnenderweise war auch nicht die Einführung des »Tirpitz-Plans«, sondern die frühere Einnahme Kiaotschous an der chinesischen Küste im Jahr 1897 als Basis für deutsche Handelstätigkeiten im Jangtse-Tal der Anlass für erste englisch-russische Sondierungsgespräche bezüglich eines möglichen, globalen Kompromisses zwischen zwei kampfbereiten Weltreichen – ein Kompromiss, der schließlich in der gemeinsamen Sorge über deutsche Handelsexpansion in Gebiete gemeinsamer englisch-russischer Interessen gefunden wurde. 102
    Man mag Verständnis für die Ängste der britischen Politiker haben oder gar die Zähigkeit und Wachsamkeit bewundern, mit der die Briten in dieser Ära über den globalen Machtanteil des Königreichs wachten, aber man muss sie auch als eigenen, politischen Faktor anerkennen. In einem Klima des gegenseitigen Misstrauens, das von Spekulationen in der Presse geschürt wurde und phasenweise an Paranoia grenzte, konnte eine reibungslose »Partnerschaft« mit der Inselmacht nur durch einen drastischen Verzicht auf deutsche Macht erkauft werden. Die Historiker haben gelegentlich darauf hingewiesen,

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