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Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition)

Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition)

Titel: Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Clark
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abgetan werden. Sie war absolut rational in Anbetracht der Einschätzungen Wilhelms – und vieler Zeitgenossen – bezüglich der Macht der rasch expandierenden Presse. Sie spiegelte ferner seine exponierte Stellung im öffentlichen Leben nach Bismarcks Abschied im Jahr 1890 wieder, sowie den zunehmend respektlosen und boshaften Ton der Pressekommentare zur »Allerhöchsten Person«. Die neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts waren, wie ein Augenzeuge bemerkte, eine »Zeit schrankenloser Publizität, wo so zahllose Fäden hin und her laufen und keine Glocke geläutet wird, ohne dass jeder sich ein Urteil über ihren Ton bildet […]«. 6 In der Ära nach Bismarck mit ihrer Lockerung der Presseaufsicht entfalteten sich die kritischen Energien der außerordentlich differenzierten und sich rasch ausdehnenden Presse im Deutschen Reich. 7 Mit Blick auf den rasanten Anstieg der Zahl und der Leserschaft der Zeitungen in diesen Jahren scheint es angebracht, von einer »Medienrevolution« zu sprechen, die zum Teil vom technischen Fortschritt und zum Teil von der unzähmbaren Dynamik eines heftig umkämpften Marktes in der politischen Presse angetrieben wurde. 8 Wie Hans-Ulrich Wehler betont, verwendeten die Journalisten der wilhelminischen Ära eine »offenere, pointiertere, gegebenenfalls aggressivere Sprache […] als sie in aller Regel derzeit zu finden ist«. 9 In diesem immer enthemmteren Umfeld entpuppte sich die Presse als eine »selbständige Zwischengewalt«, die nicht länger von den Behörden instrumentalisiert werden konnte. 10 Aber Wilhelm hat es sich in erster Linie selbst zuzuschreiben, dass sich der Ton der öffentlichen Kommentare zu seiner Person so rasch abkühlte; in den ersten beiden Jahrzehnten seiner Herrschaft buhlte er unablässig um öffentliche Aufmerksamkeit, häufig mit katastrophalen Folgen.
    Kein Monarch der Hohenzollern hat jemals so oft und so direkt vor so großen Versammlungen seiner Untertanen gesprochen wie Wilhelm II. Wilhelms Großonkel Friedrich Wilhelm IV. hatte als erster, preußischer König spontan während der Zeremonie des Lehenseides 1840 eine öffentliche Rede gehalten. Bei diesem Ereignis verblüffte er sein Gefolge, indem er aus dem Stegreif auf dem Schlossplatz eine Ansprache an die riesige Volksmenge richtete. Das Experiment wurde jedoch nur selten wiederholt. Wilhelms Großvater sprach kaum einmal in der Öffentlichkeit, und sein Vater war zwar ein guter Redner, aber außerstande, neben Bismarck eine wichtige Rolle in der Öffentlichkeit zu spielen. Als er dann den Thron bestieg, hatte er schon fast seine Stimme verloren. Im Gegensatz dazu ließ Wilhelm II. die deutsche Öffentlichkeit in den Genuss eines ununterbrochenen Schwalls öffentlicher Äußerungen kommen. Allein in den sechs Jahren von Januar 1897 bis Dezember 1902 stattete er beispielsweise mindestens 123 deutschen Städten wenigstens 233 Besuche ab, wo er jeweils meistens auch eine Rede hielt, die anschließend in der regionalen und überregionalen Presse veröffentlicht und diskutiert wurde. 11
    Wilhelms Reden waren, zumindest bis 1908, keine Standardtexte, die von professionellen Schreibern für ihn zusammengestellt wurden. Die Männer des Zivilkabinetts waren damit beschäftigt, für besondere Orte und Anlässe Fakten zu recherchieren und Texte zu verfassen. In manchen Fällen wurde eine letzte gedruckte Fassung an ein hölzernes Lesebrett geheftet, das dem Kaiser bei der Ankunft überreicht wurde, doch diese Mühe war zum großen Teil umsonst – Wilhelm zog es vor, frei zu sprechen. 12 Anders als sein Vater, der als Kronprinz stets im Voraus seine Reden formuliert und dann »immer wieder verändert« hatte, bereitete Wilhelm nur selten seine Reden vor. 13 Sie wurden bewusst als spontane, unvermittelte Akte der Kommunikation inszeniert, wie aus der folgenden, zeitgenössischen Schilderung – womöglich eines »inspirierten« Journalisten – hervorgeht:
     
    Dann macht der Kaiser beim Sprechen hie und da kurze Pausen, man sieht ihm an, wie er nachdenkt, die Stirn sich faltet, und das Auge in der Ferne sucht, bis das Kettenglied gefunden ist, das sich als natürliche und folgerichtige Fortsetzung an das zuletzt gesagte anfügen lässt. Ist aber der Gedanke gefunden, dann gibt es keine Unterbrechung in der Rede, in sicherem Fluss trägt ihn das Wort bis ans Ende. 14
    Der Kulturhistoriker Karl Lamprecht, der Wilhelm mit eigenen Augen gesehen hat, schreibt in einem ähnlichen Ton von der »vollen, sonoren

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