Will Trent 03 - Letzte Worte
nachzusehen, wie es ihm ging. Lena war noch nicht so erschöpft, dass sie nicht mehr erkennen konnte, dass Tommy noch mehr zu sagen hatte. Sie brauchte nur etwas Schlaf, bevor sie noch einmal zu ihm ging. Sie musste dafür sorgen, dass der Fall, zumindest der Teil des Falles, den sie kontrollieren konnte, wasserdicht war.
Das größte Problem war, dass man mit Tommy nur sehr schwer reden konnte. Schon nach einer Minute des Verhörs hatte Lena erkannt, dass Tommy nicht richtig im Kopf war. Er war nicht nur schwer von Begriff, er war dumm. Immer bereit, jede Lücke zu stopfen, die Lena offen gelassen hatte, solange sie ihm nur die Richtung vorgab. Sie hatte versprochen, er könne nach Hause gehen, wenn er gestand. Noch immer sah sie den verwirrten Ausdruck in seinem Gesicht, als sie ihn in die Zelle zurückführte. Wahrscheinlich saß er jetzt im Augenblick auf seiner Pritsche und fragte sich, wie er nur in dieses Schlamassel hatte hineingeraten können.
Lena fragte sich dasselbe. All die Einzelteile hatten sich heute Vormittag so schnell zusammengefügt, dass sie gar keine Zeit gehabt hatte zu überlegen, ob sie wirklich zusammenpassten oder ob sie sie nur mit Gewalt in das Puzzle drückte. Die Stichwunde in Allison Spooners Nacken. Der Abschiedsbrief. Der 911er-Anruf. Das Messer.
Das blöde Messer.
Lenas Handy vibrierte in ihrer Tasche. Sie ignorierte es, so wie sie alles ignoriert hatte, seit sie ins Krankenhaus gekommen war. Zwei Stunden mit Tommy im Revier. Zwei Stunden Fahrt nach Macon. Weitere Stunden Wache vor Brads Zimmer. Sie hatte Blut gespendet. Sie hatte zu viel Kaffee getrunken. Delia Stephens, Brads Mutter, schnappte im Augenblick ein wenig frische Luft. Nur zu Lena hatte sie genug Vertrauen, dass sie ihren Sohn ihrer Obhut überließ.
Warum? Lena war der letzte Mensch auf Erden, dem die Frau ihren Sohn anvertrauen sollte.
Sie zog ein Papiertuch aus dem Spender und benetzte eine Ecke in dem Wasserglas neben dem Bett. Brad war an ein Beatmungsgerät angeschlossen, sein Mund war mit getrocknetem Speichel verklebt. Seine Lunge war kollabiert. Seine Leber war beschädigt. Er hatte starke innere Blutungen gehabt. Man hatte Angst vor möglichen Infektionen. Man hatte Angst, dass er die Nacht nicht überlebte.
Als sie ihm übers Kinn wischte, spürte sie überrascht die Bartstoppeln. Lena betrachtete Brad noch immer als Jungen, aber er hatte Haare im Gesicht, und die Größe seiner Hand, die sie in der ihren hielt, erinnerte sie daran, dass er ein erwachsener Mann war. Er hatte um das Risiko gewusst, das man als Polizist einging. Brad war vor Ort gewesen, als Jeffrey starb, sogar als erster eintreffender Beamter. Er hatte nie darüber gesprochen, aber seit diesem Tag war Brad verändert. Erwachsener. Der Tod des Chief war eine grausame Erinnerung daran, dass sie alle nicht gefeit waren gegen die bösen Jungs, die sie verhafteten.
Ihr Handy vibrierte schon wieder. Lena zog es aus der Tasche und ging die Anrufliste durch. Sie hatte ihren Onkel in Florida angerufen, um ihm zu sagen, dass sie okay war, für den Fall, dass er in den Nachrichten etwas sah. Jared hatte angerufen, als sie Tommy Braham eben ins Auto steckte. Jared war ebenfalls Polizist. Er hatte über Funk von der Messerstecherei gehört. Sie hatte ihm nur gesagt: » Ich bin okay « , und dann wieder abgeschaltet, bevor sie zu weinen anfing.
Alle anderen Anrufe waren von Frank gekommen. Seit mindestens fünf Stunden versuchte er, sie zu erreichen. Sie hatte ihn nicht mehr gesehen, seit er mit Brad in dem Hubschrauber, der mitten auf der Straße gelandet war, davongeflogen war. Der Blick aus seinen verquollenen Augen hatte eine Geschichte erzählt, die sie nicht hatte hören wollen. Und jetzt hatte er Angst, dass sie jedem alles sagen würde, was sie wusste.
Er sollte Angst haben.
Er meldete sich schon wieder, als sie ihr Handy noch in der Hand hielt, aber sie drückte auf den Knopf, bis das Gerät sich abschaltete. Sie wollte nicht mit Frank reden, wollte keine seiner Ausreden mehr hören. Er wusste, was heute schiefgelaufen war. Er wusste, dass Brads Blut ebenso sehr an seinen Händen wie an Lenas klebte – vielleicht sogar noch mehr.
Sie sollte einfach aufhören. Ihr Kündigungsschreiben steckte in ihrer Jackentasche, seit Wochen schon. Sie hatte Tommys Geständnis in Rekordzeit bekommen. Sollte doch jemand anders die Details aus ihm herausholen. Sollte doch ein anderer Polizist zwei Stunden lang in Tommys schlaffes Gesicht schauen und
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