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Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Titel: Willkommen im sonnigen Tschernobyl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Blackwell
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Rem, Sievert und Gray, Röntgen, Curie und Becquerel mit ihrem summenden Begleitschwarm aus Coulomb, Erg und Joules. Vielleicht wollen Sie die Halbwertszeit von radioaktivem Material erfahren oder sein Potenzial, die umgebende Luft zu ionisieren, oder die Ener giemenge, die es an Feststoffe abgeben kann, oder die Energiemenge, die es tatsächlich an das Gewebe eines unglückseligen lebenden Organismus – wie zum Beispiel eines Tschernobyl-Touristen – abgibt, und so weiter.
    Letztlich hängt alles davon ab, in welchem Zeitraum man seine Dosis abbekommt. Darin gleicht Strahlung anderen Giften wie zum Beispiel Alkohol. Ein Schnapsglas Wodka pro Wochenende ein Jahr lang ist nicht sonderlich gefährlich. Fünfzig Kurze in einer Nacht dagegen bringen einen um.
    Und schließlich ist wichtig, welcher Teil des Körpers bestrahlt wird. Extremitäten? Glück gehabt. Eingeweide? Weniger.
    Kein Wunder also, dass Strahlung so mysteriös und furchteinflößend ist und häufig zur Hintergrundgeschichte von Comic-Monstern gehört. Sie ist unsichtbar, tödlich, kosmisch, extrem verwirrend und ein unverzichtbarer Teil der nuklearen Apokalypse. Das Zeug ist einfach gruselig, und wenn man – wie ich – nie ein intuitives Verständnis für seine Dosierung und wahren Risiken entwickelt, kann man es sich auch sparen, allzu viel darüber nachzudenken. Der Zweck eines Detektors ist also nicht, die Gefahr in der Umgebung besser einschätzen zu können, sondern mit der Angst etwas effizienter umzugehen, indem man sie in eine einzige Zahl auf einer kleinen Digitalanzeige bündelt.
    Oh, Sie wollen wissen, wie man sich nun vor Gammastrahlen schützen kann? Tja, leider gar nicht.
    *
    Olena hatte einen Plan. »Lass uns auf den Elektroschwarzmarkt in Karawajewi Datschi gehen«, schlug sie vor.
    Was Manhattans Chinatown in Bezug auf Essen ist, ist Karawajewi Datschi für Elektroartikel. Wir kamen am frühen Nachmittag an. Verkaufsbuden säumten die Gassen, hochgefahrene Rollgitter gaben den Blick frei auf ein Gewirr aus elektronischen Bauelementen und Geräten. Männer mit groben, sonnenverbrannten Gesichtern saßen an Klapptischen, auf denen Elektronenröhren, Trafos, Stecker, Computerchips und Adapter ausgebreitet waren. Schutzhüllen für Autoradios hingen wie Bananenstauden von den Ständen. Unwahrscheinlich, dass wir hier zwischen verknäulten Kabeln und Transistoren einen funktionierenden Strahlungsdetektor finden würden, und so endete das Gespräch denn auch an jedem Stand mit demselben Wort: »Njet«.
    Ein Mann behauptete, er habe einen Detektor zu Hause, den er uns für 150 Hrywnia – ungefähr dreißig Dollar – verkaufen würde. Der Haken: Er konnte nur Betastrahlung nachweisen. Vergiss es, Mann. Jeder Depp weiß, dass Betateilchen – die nicht einmal durch normale Kleidung hindurchgelangen – nicht annähernd so unheimlich oder cool sind wie Gammastrahlen. Wir gingen weiter, während der Verkäufer uns wütend hinterherrief: »Aber Beta ist das Beste!«
    Ein anderer Mann, der unser Gespräch mitgehört hatte, näherte sich. Er wisse, wo man Strahlungsdetektoren besser bekommen könne, sagte er, nur fünf Minuten entfernt. Er würde uns gerne dorthin führen. Also ließen wir Karawajewi Datschi hinter uns und machten uns auf den Weg entlang einer von Bäumen und Backsteinhäusern gesäumten Straße.
    Unser Führer hieß Volod. Er war ein Mann mittleren Alters mit einer Stirnglatze, die übrigen Haare waren ordentlich nach hinten gekämmt. Er trug eine beigefarbene Jacke über einem beige gestreiften Hemd und beigefarbene Jeans und schien auch nicht besser zu wissen als ich, wo es langging. Aus den fünf Minuten wurden 15, zwanzig, und meine Hoffnung, dass wir tatsächlich unterwegs zu einem Detektor waren, schwand zusehends. Wir erfuhren, dass er in den 1980ern Verbindungsoffizier der sowjetischen Armee gewesen war. Einen Monat nach dem Reaktorunglück hatte er zwei Wochen lang im Sperrgebiet gearbeitet.
    Ich fragte ihn, ob er eine Liquidatoren-Urkunde erhalten habe. »Liquidatoren« waren in dem schrecklichen Jargon des Unfalls die Tausende von Arbeitern, zumeist Soldaten, die monatelang Dörfer dem Erdboden gleichgemacht und mit frischer Erde bedeckt, Straßen abgespült und sogar ganze Wälder klein gehauen und vergraben haben. Der zerstörte Reaktor hatte die Umgebung mit radioaktivem Staub überzogen und mit ganzen Klumpen des Kernbrennstoffes gesprenkelt, der bei der Explosion hinausgeschleudert worden war. Es war

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