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Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Titel: Willkommen im sonnigen Tschernobyl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Blackwell
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Stunden nach dem Wiederanlassen des Reaktors war dessen Leistung nicht hoch genug für das Experiment, also zog man immer mehr Steuerstäbe aus dem Reaktorkern, um die Kernspaltung zu beschleunigen. Inzwischen war jedoch der durch den Reaktorkern laufende Wasserstrom unter den normalen Pegel gefallen, sodass sich immer mehr Hitze und Dampf im Reaktor bilden konnten, wodurch die Gefahr einer Explosion bestand. Die eingebauten Systeme, die all das verhindern sollten, gehörten zu denen, die für die Durchführung des Tests ausgeschaltet worden waren.
    In den frühen Morgenstunden des 26. April bemerkten die Operatoren eine Zunahme von Hitze und Energie, und ihnen wurde klar, dass der Reaktor außer Kontrolle geraten würde, wenn sie nicht sofort die Steuerstäbe wieder einführten. Vermutlich wurde dann der Notknopf gedrückt, um die Stäbe wieder in den Reaktorkern einzufahren und die Kettenreaktion zu unterbrechen, aber das genügte nicht. Sie sanken nicht nur zu langsam hinein, sondern verdrängten dabei auch noch mehr Wasser und erhöhten sogar die Leistung des Reaktors für einen Moment. Die entsetzten Ingenieure hatten keine Möglichkeit einzugreifen.
    In Sekundenschnelle übertraf das Energielevel im Reaktorkern die normale Betriebsleistung um ein Hundertfaches. Das Wasser im Kern explodierte in einer extrem heißen Dampfwolke und sprengte die zweitausend Tonnen schwere Abdeckung vom Reaktorkern. Wenige Augenblicke später riss eine erneute Explosion – vielleicht verursacht durch den Dampf, vielleicht durch Wasserstoff oder eine sogenannte nukleare Leistungsexkursion  – ein klaffendes Loch in das Dach des Gebäudes. Brocken des Kernbrennstoffes regneten auf den Reaktorkomplex und die Landschaft ringsum nieder und setzten das Gebäude und seine Umgebung in Brand.
    Im Reaktorkern waren die überhitzten Grafitblöcke, die Basis des Reaktors, ebenfalls in Brand geraten, ohne dass das panische Personal etwas davon mitbekam, und der übrige Kernbrennstoff schmolz völlig unkontrolliert zu einer radioaktiven Lava zusammen, die sich ins Untergeschoss hinabwälzte. Währenddessen sprühte Rauch, Staub und Dampf in den Himmel, ein radioaktiver Geysir, der noch tagelang aktiv sein sollte.
    Binnen Kurzem registrierten Messgeräte in Schweden erhöhte Radioaktivität, die vom Wind weitergetragen worden war, amerikanische Spionagesatelliten konzentrierten sich auf die flammenspeiende Ruine des Reaktorgebäudes, und die ganze Welt fragte sich, was zum Teufel genau in Tschernobyl geschehen war. In gewisser Weise fragen wir uns das noch heute.
    *
    Meine Nylonhose raschelte, als ich die moderige Treppe in meinem Haus hinunterging. Ich hatte mir einen Trainingsanzug für meinen Wochenendausflug nach Tschernobyl gekauft. Zwar sah ich darin aus wie ein ukrainischer Vollidiot aus dem Jahre 1990, aber im Falle einer Kontamination konnte ich ihn einfach wegwerfen.
    Zufällig wohnte ich gegenüber dem Büro von Tschernobyl-Interinform, wo mein Ausflug in die Zone begann. Das war zu der Zeit, bevor der Tschernobyl-Tourismus offiziell zugelassen war. Die Strategie wurde 2011 geändert, seitdem kann jeder Trottel ins Reisebüro gehen und eine Tour buchen. Zu meiner Zeit musste besagter Trottel … ins Reisebüro gehen und eine Tour buchen. Ich weiß wirklich nicht, worin der Unterschied liegt, abgesehen davon, dass die Touren nun offiziell als Touristenattraktion angeboten werden. Wahrscheinlich ist der Zauber des Ortes inzwischen dahin, wie bei so vielen ehemaligen Geheimtipps.
    Es war ein schöner Tag für eine Spritztour mit dem Auto, eine leichte Brise wehte und am Himmel keine Wolke. Nikolai, ein schlaksiger junger Fahrer der Tschernobyl-Behörde, fand einen Radiosender, der, passend zu Nikolais fröhlich-forschem Umgang mit dem Gaspedal, unerbittlichen Techno spielte, und so fuhren wir durch die belebten Straßen Nordkiews. (Strahlenwert an der Tankstelle: zwanzig Mikroröntgen.) Wir folgten dem Verlauf des Dnjepr Richtung Norden, bis er sich irgendwann nach Osten abwandte. Die Straße schlängelte sich durch hügeliges Ackerland, war manchmal gesäumt von Bäumen, die Schatten spendeten und Schutz gegen die zunehmende Hitze boten. In unserem kleinen blauen Kombi rasten wir durch die Dörfer, vorbei an einem Jungen, der auf seinem Fahrrad herumhing, einer alten Dame, die am Straßenrand entlangwatschelte und einem Pferdewagen voller Heu.
    Bald gab es keine Dörfer mehr, nur noch ländliche Gegend und dichter werdenden

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