Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
genauso.«
»Was hältst du davon, eine Zeit lang für mich im Reichstag zu arbeiten? Unbezahlt, fürchte ich, aber du würdest den ganzen Tag Deutsch sprechen.«
Lloyd war begeistert. »Das wäre großartig!«
»Natürlich nur, falls Ethel dich entbehren kann«, fügte Walter hinzu.
Sie lächelte. »Solange ich ihn dann und wann wiederbekomme, wenn ich ihn brauche.«
»Natürlich.«
Ethel streckte den Arm aus und berührte Walters Hand. Es war eine intime Geste, und Lloyd erkannte, dass die drei eng verbunden waren. »Das ist sehr freundlich von dir, Walter«, sagte sie.
»Ach was. Einen klugen, jungen Assistenten, der was von Politik versteht, kann ich immer gebrauchen.«
Ethel seufzte. »Ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich die Politik überhaupt noch verstehe. Was ist hier in Deutschland eigentlich los?«
»Mitte der Zwanzigerjahre war die Welt noch in Ordnung«, antwortete Maud. »Wir hatten eine demokratische Regierung, und unsere Wirtschaft
florierte. Dann aber kam der Börsencrash von 1929, und jetzt stecken wir mitten in einer Wirtschaftskrise.« Trauer schlich sich in ihre Stimme. »Wird irgendwo eine Arbeitsstelle angeboten, stehen hundert Leute Schlange, und wenn ich mir die Gesichter anschaue, sehe ich nur Schmerz und Verzweiflung. Diese Menschen wissen nicht, wie sie ihre Kinder ernähren sollen. Dann kommen die Nazis und bieten ihnen Hoffnung, und die Leute sagen sich: Was habe ich zu verlieren?«
Walter schien Mauds Worte für übertrieben zu halten, denn er sagte voller Zuversicht: »Aber Hitler ist es nicht gelungen, die Mehrheit der Deutschen für sich zu gewinnen. Bei der letzten Wahl haben die Nazis nur ein Drittel der Stimmen errungen. Sie waren zwar die stärkste Partei, aber Gott sei Dank führt Hitler nur eine Minderheitsregierung.«
»Deshalb hat er ja Neuwahlen angesetzt«, warf Maud ein. »Er braucht eine breite Mehrheit, um Deutschland in die braune Diktatur zu verwandeln, die er anstrebt.«
»Und wird er diese Mehrheit bekommen?«, wollte Ethel wissen.
»Nein«, antwortete Walter.
»Ja«, sagte Maud.
Walter schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass das deutsche Volk für die Einführung einer Diktatur stimmen wird.«
»Aber es werden keine fairen Wahlen sein!«, wandte Maud ein. »Sieh dir doch an, was heute mit meiner Zeitung passiert ist. Jeder, der die Nazis kritisiert, schwebt in Gefahr. Gleichzeitig ist ihre Propaganda überall.«
»Und niemand scheint sich ihnen zu widersetzen«, sagte Lloyd. Er wünschte, er wäre an diesem Morgen früher an der Redaktion eingetroffen, dann hätte er sich ein paar Braunhemden vorgeknöpft. Unwillkürlich ballte er unter dem Tisch die Faust und zwang sich, die Hand wieder zu öffnen. Aber sein Zorn verflog nicht. »Warum nehmen die Linken nicht ein paar Nazi-Zeitungen auseinander? Gebt ihnen ihre eigene Medizin zu schmecken!«
»Nein. Wir dürfen Gewalt nicht mit Gewalt beantworten«, erklärte Maud entschlossen. »Hitler wartet nur auf einen Anlass, um den Notstand auszurufen. Dann kann er die Bürgerrechte außer Kraft setzen und seine Gegner nach Belieben ins Gefängnis werfen.« Ihre Stimme bekam einen flehenden Beiklang. »Wir dürfen ihm auf keinen Fall einen Vorwand geben, und wenn es uns noch so schwerfällt.«
Sie beendeten ihre Mahlzeit. Das Restaurant leerte sich. Als der Kaffee serviert wurde, gesellten sich die Besitzer des Bistro Robert zu ihnen: Walters entfernter Cousin Robert von Ulrich sowie Jörg, der Koch. Vor dem Großen Krieg waren Robert und Walter Militärattachés in London gewesen – Robert an der österreichischen, Walter an der deutschen Botschaft. Während dieser Zeit hatte Walter sich in Maud verliebt.
Robert ähnelte Walter, war aber deutlich auffälliger gekleidet. In seiner Krawatte steckte eine goldene Nadel, seine Uhrenkette zierte ein schweres Siegel, und sein Haar schimmerte von Pomade. Jörg war jünger, ein blonder Mann mit feinen Gesichtszügen und einem fröhlichen Lächeln. Die beiden waren gemeinsam in Russland in Kriegsgefangenschaft gewesen. Jetzt lebten sie in einer Wohnung über dem Restaurant.
Gemeinsam erinnerten sie sich nun an die Hochzeit von Walter und Maud, die am Vorabend des Krieges streng geheim gehalten worden war. Es hatte keine Gäste gegeben, doch Robert und Ethel waren als Trauzeuge und Brautjungfer dabei gewesen. Ethel erzählte: »Wir haben im Hotel Champagner getrunken. Dann haben Robert und ich uns taktvoll verabschiedet, und Walter …«Sie
Weitere Kostenlose Bücher