Winter People - Wer die Toten weckt: Wer die Toten weckt (German Edition)
er den Kaffee in der Blechtasse umrührt, aus der er so gerne trinkt. Ich stelle mir seine von tiefen Sorgenfalten zerfurchte Stirn vor; wie traurig sein Gesicht aussehen muss, nachdem er ihren Namen ausgesprochen hat.
Ich wage nicht zu atmen und lausche angestrengt.
»Manchmal kann ein Schicksalsschlag einen Menschen zugrunde richten«, sagt Lucius, »so dass er sich nie wieder davon erholt.«
Wenn ich jetzt die Augen schließe, sehe ich noch immer das Gesicht meiner kleinen Gertie vor mir und spüre ihren zuckersüßen Atem an meiner Wange. Die Erinnerung an unseren letzten gemeinsamen Morgen ist in mir noch so lebendig, dass ich sie zu mir sagen höre: »Wenn Schnee schmilzt und zu Wasser wird, erinnert er sich dann noch daran, früher einmal Schnee gewesen zu sein?«
Martin
12. Januar 1908
»Martin, wach auf.« Ein sanftes Wispern, hauchzart an seiner Wange. »Es ist Zeit.« Martin öffnete die Augen, und der Traum von einer Frau mit langem dunklem Haar verblasste. Sie hatte ihm gerade etwas gesagt. Etwas Wichtiges, was er nicht vergessen durfte.
Noch liegend, drehte er sich um. Er war allein. Saras Bettseite war kalt. Er setzte sich auf und horchte. Durch die geschlossene Tür von Gerties Kammer auf der anderen Seite des Flurs drangen Stimmen und leises Gelächter.
Hatte Sara wieder die ganze Nacht bei Gertie verbracht? Es konnte doch nicht gut für das Kind sein, so erdrückt zu werden. Manchmal regte sich in ihm die Befürchtung, dass Saras Beziehung zu Gertie einfach nicht … gesund war. Erst vergangene Woche hatte sie Gertie drei Tage hintereinander zu Hause behalten, statt sie in die Schule zu schicken, und diese drei Tage hindurch hatte sie Gertie fortwährend bemuttert – sie hatte ihr die Haare geflochten, ein neues Kleid für sie genäht, Kekse für sie gebacken, Verstecken mit ihr gespielt. Saras Nichte Amelia hatte angeboten, Gertie über das Wochenende zu sich zu nehmen, doch Sara hatte sich herausgeredet: Sie bekommt so leicht Heimweh, sie ist so kränklich . Martin begriff, dass Sara es einfach nicht ertragen konnte, ohne ihre Tochter zu sein. Ihr schien immer etwas zu fehlen, wenn sie Gertie nicht in ihrer Nähe wusste.
Er schob diese sorgenvollen Gedanken beiseite. Besser, er kümmerte sich um die Probleme, von denen er etwas verstand und an denen er etwas ändern konnte.
Im Haus war es kalt. Das Feuer war ausgegangen.
Er schlug die Decke zurück, schwang die Beine über den Bettrand und zog sich die Hosen an. Sein verkrüppelter Fuß hing unbeweglich und nutzlos da wie ein Huf, als er ihn in den Stiefel zwängte, den der Schuster in Montpelier eigens für ihn angefertigt hatte. Die Sohlen waren durchgelaufen, und er hatte beide Stiefel mit trockenem Gras, Katzenschwanz und Lederlappen ausgestopft – ein vergeblicher Versuch, die Feuchtigkeit abzuhalten. Im Augenblick war kein Geld da für neue, maßangefertigte Schuhe.
Im letzten Herbst hatte die Krautfäule den größten Teil der Kartoffelernte vernichtet, und um über den Winter zu kommen, mussten sie mit dem wenigen Geld wirtschaften, das der Verkauf der Kartoffeln an die Stärkefabrik eingebracht hatte. Es war erst Januar, und der Kartoffelkeller war nahezu leer: eine Handvoll schwammiger Kartoffeln und Möhren, ein paar Winterkürbisse, einige Gläser mit Stangenbohnen und Tomaten, die Sara im Sommer eingekocht hatte, sowie wenige Stücke Salzfleisch von dem Schwein, das sie im November geschlachtet hatten, waren noch übrig. (Den Großteil des Fleisches hatten sie gegen Trockengut aus dem Gemischtwarenladen eingetauscht.) Wenn sie weiterhin satt werden wollten, würde Martin bald ein Wild erlegen müssen. Sara besaß die Gabe, mit dem wenigen, was sie hatten, lange auszukommen. Es gelang ihr, aus Milchsoße, Sodabrot und einigen Brocken Salzfleisch eine ganze Mahlzeit zuzubereiten, doch aus nichts konnte auch sie kein Essen zaubern.
»Nimm dir nur, Martin«, forderte sie ihn immer auf und schöpfte ihm mehr Soße auf den Teller. »Es ist reichlich da.« Er nickte dann stets und nahm sich Nachschlag, um das Märchen vom Überfluss, das Sara sich ausgedacht hatte, nicht zu zerstören.
»Ich liebe Sodabrot mit Soße«, sagte Gertie immer.
»Deshalb koche ich es ja auch so oft, mein Liebling«, gab Sara jedes Mal zurück.
Einmal im Monat spannten Sara und Gertie den Wagen an und fuhren in die Stadt, um im Gemischtwarenladen alles Nötige einzukaufen. Sie leisteten sich nichts Außergewöhnliches: Zucker, Sirup, Mehl, Kaffee
Weitere Kostenlose Bücher