Winter People - Wer die Toten weckt: Wer die Toten weckt (German Edition)
gekannt hatte.
Mit einem ganz feinen Pinsel trug sie einen Tropfen Klebstoff auf die Rückseite der winzigen Karte auf, steckte die Hand in den Kasten und klebte die Karte neben Gary auf den Tisch. Die Karte, die ihn nach West Hall geführt hatte, zum Hügel und zur Teufelshand, wo er ein Foto von einem kleinen Mädchen gemacht hatte, das seit über hundert Jahren tot war.
Sie strich das weiße Hemd der Gary-Puppe glatt und malte sich sein letztes Gespräch aus: Alice, die ihn anflehte, seine Entdeckung zu vergessen und seinen Plan aufzugeben. Und Gary, der nach dem unbegreiflichen Verlust seines Sohnes die letzten zwei Jahre lang wie betäubt gewesen war, voller Wut und Schmerz, und der nur noch an Austin dachte – daran, dass er alles für die Chance geben würde, ihn wiederzubekommen, und sei es nur für sieben Tage.
Wie strahlend und herrlich und magisch die Welt Gary an seinem letzten Tag erschienen sein musste, als er dort in Lou Lous Café gesessen hatte. In einer Welt zu leben, in der die Toten wieder zum Leben erwachen konnten – was für eine wundersame Entdeckung! Welche Hoffnung musste sein Inneres erwärmt haben.
Und hatte er auch an Katherine gedacht – daran, was sie für ein Gesicht machen würde, wenn er mit ihrem Sohn nach Hause käme? Wie glücklich sie wäre? Wie außer sich vor Staunen?
»Ich verstehe dich«, sagte Katherine laut und strich der kleinen Puppe über den Kopf. »Ich kann verstehen, weshalb du es getan hast. Mir tut es nur leid, dass du mir nichts davon gesagt hast.« Und dann – sie musste es einfach sagen, musste die Worte laut aussprechen und spüren, wie die Last ein für alle Mal von ihr abfiel – fügte sie noch hinzu: »Ich vergebe dir.«
Sie schloss die Tür und ließ die beiden im Café allein, wo sie wieder und wieder ihre letzte Unterhaltung führen konnten: Alice, die ihn zu überzeugen versuchte, die ganze Sache zu vergessen. Gary, der ihr sagte, dass er das einfach nicht konnte.
Hinter ihr ein leises Geräusch.
Ein Kratzen an der Wohnungstür, als wolle ein Hund oder eine Katze hereingelassen werden.
Sie erhob sich von ihrem Hocker, flog durchs Zimmer und öffnete nach einem winzigen Zögern die Tür.
Ihr Herz jubelte.
Gary.
1939
Sara
4. Juli 1939, Unabhängigkeitstag
Die mitternächtlichen Ausflüge in den Ort sind schwieriger geworden. Mein Augenlicht lässt nach, meine Knochen und Gelenke schmerzen die ganze Zeit. Vor einigen Tagen habe ich mein Spiegelbild im Fluss gesehen und die magere Alte, die mich anschaute, gar nicht erkannt. Wann ist mein Haar so grau geworden? Mein Gesicht so runzlig?
Es schmerzt mich, daran zu denken, was aus meiner geliebten Gertie werden wird, wenn ich einmal nicht mehr bin. Sie wird ewig leben, meine Zeit hingegen ist begrenzt. Und so alt sie an Jahren auch werden mag, sie wird trotzdem ein Kind bleiben, und ihre Entscheidungen und Pläne werden immer die eines Kindes sein.
Wer wird da sein, um ihr Gesellschaft zu leisten und ihr dabei zu helfen, ihre Triebe zu beherrschen, wenn ich tot bin?
»Gibt es noch andere?«, schrieb sie mir eines Abends vor nicht allzu langer Zeit in die Hand. »Andere wie mich?«
Ich wusste nicht recht, was ich darauf antworten sollte. Ich hatte bereits über diese Frage nachgedacht und war zu dem Schluss gekommen, dass Gertie, bedachte man all die Jahre, seit denen die Menschen nun schon Schlafende erschufen, gewiss nicht die Einzige sein konnte, die fremdes Blut vergossen hatte. »Vielleicht«, sagte ich ihr. »Doch wenn es sie gibt, wissen sie sich gut zu verbergen.«
Insgeheim bete ich, dass sie die Einzige ist.
Wie es scheint, muss sie alle paar Monate Nahrung zu sich nehmen. Sobald sie schwach und hungrig wird, ist es Zeit für mich, hinauszugehen und etwas für sie zu suchen. Ich habe ihr schon Eichhörnchen, Fisch, sogar ein Reh gebracht. Ich lasse die Gaben vor dem Höhleneingang liegen und mache einen langen Spaziergang, während sie isst. Sie möchte nicht, dass ich ihr dabei zusehe. (Und ich ertrage den Anblick auch nicht.) Leider vermögen die Tiere, die ich ihr bringe, ihren Hunger nicht zu stillen. Am meisten gelüstet sie (ich erschauere, während ich dies niederschreibe) nach menschlichem Blut.
Auch das habe ich ihr schon gebracht.
Die Einzelheiten meiner Taten werde ich hier nicht schildern – sie sind zu grauenhaft. Es genügt, Folgendes zu sagen: Wenn es eine Hölle gibt, die Hölle, vor der Reverend Ayers in seinen Predigten stets gewarnt hat, so gehöre ich
Weitere Kostenlose Bücher